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Digitalisierung und die Psychiatrie: Veränderungskräfte, Szenarien, Innovationsethik

Mit Bild- und Filmmaterial von Maximilian Lederer


Unsichtbare Beobachter schauen zu, wie wir uns entwickeln

Sich zu entwickeln, heisst zu wachsen, sich zu entfalten, sich zu vernetzen. Diese Vernetzung spaltet sich in einen äussserlichen Teil und einen inneren, der für andere nur schwer zugänglich ist. Äusserlich entfalten wir uns durch Orte, Menschen, Bücher und Symbole, mit denen wir in Beziehung treten. Im Inneren verknüpfen wir unsere Gedanken, Erlebnisse und Empfindungen. Innere und äussere Vernetzung hängen eng zusammen. Was wir erleben, schlägt innerlich Wurzeln. Diese wiederum prägen – als Weltbilder, Erinnerungen und Vorlieben – wie wir denken, fühlen und handeln. In einer digitalen Gesellschaft verändert sich dieser Entwicklungsprozess insofern, als dass wir stets beobachtet und vermessen werden. Jeder Klick, jeder Swipe, jeder Like hinterlässt eine Spur. Dadurch gleicht unsere Entfaltung dem Wurzelschlagen einer Pflanze im Wasserglas. Unzählige Zuschauer sind live dabei – die Vernetzten in den sozialen Netzwerken genauso wie die Algorithmen und Datenanalytikerinnen des Silicon Valley. Dieses Bild mag helfen über die digitale Zukunft der Psychiatrie nachzudenken – greift diese doch immer dann ein, wenn unsere Entwicklung ins Stocken gerät.

Im digitalen Zeitalter gleicht unser Entfaltungsprozess dem Wurzelschlagen einer Pflanze im Wasserglas

Das Nachdenken ist dringend nötig, denn im Hintergrund werden zurzeit die Weichen für die Disruption des Gesundheitswesens gestellt. Fünf Entwicklungen sind für die Neuausrichtung verantwortlich:

Die gewählte Fokussierung dieses White Papers auf die Psychiatrie erfolgt, um im breiten Feld der Medizin nicht verloren zu gehen und beispielhaft Szenarien aufzuzeigen. Anderseits folgt die Auswahl der Feststellung, dass die meisten von uns irgendwann von einer psychischen Erkrankung betroffen sind – wenn nicht direkt, dann indirekt durch ihr Umfeld. So leidet fast jede zweite Person in ihrem Leben an einer psychischen Störung, jeder Vierte unter einer Depression. Eine Fokussierung auf die Psychiatrie macht schliesslich Sinn, weil die Disruption heutiger Institutionen und Therapieansätze hier schneller und heftiger als in der somatischen Medizin passieren könnte. Aufgrund nicht notwendiger Investitionen in Maschinen, Immobilien, Untersuchungs- und Behandlungsinstrumente liegen die Markteintrittsbarrieren für neue Wettbewerber deutlich tiefer. Zudem sind viele neue Technologien gerade zu prädestiniert, sowohl die Bedeutung als auch unseren Umgang mit der Psyche zu verändern. Dabei zeigt sich ein typisches Muster der digitalen Disruption: Innovation wird von aussen erzwungen, wobei neue Wettbewerber etablierte Prozesse, Spielregeln, Rollen und Institutionen in Frage stellen.

Die Disruptoren geben in einem solchen Szenario nicht nur vor, was wir als gesund und krank definieren. Sie geben vor, welche Lösungen wir für die Behandlung von Erkrankungen in Betracht ziehen. So beeinflussen sie, an welche Institutionen wir uns künftig wenden, wenn wir eine Beeinträchtigung unserer Wohlbefindens wahrnehmen. Die Radikalität möglicher Veränderungen und die gleichzeitig subjektive Beurteilung dieser, macht die Auseinandersetzung mit dem menschlichen Wesen und seinen “schützenswerten Eigenschaften“ (Heinz, 2014, S.350) zum zentralen Thema in der Gestaltung der künftigen Psychiatrie. In Ergänzung zum Machbaren braucht es eine Auseinandersetzung mit dem Wünschbaren. Ethische Fragestellungen sind in dieser Disziplin vielleicht noch wichtiger als anderswo in der Medizin, stehen doch psychischen Leiden stellvertretend für die Verletzlichkeit der Menschen. Neue digitale Wege zu reflektieren, um mit dieser menschlichen Verletzlichkeit umzugehen, ist der Zweck dieses White Papers. Es beobachtet die Zukunft aus der Optik eines Aussenstehenden. Dieser schreibt (ähnlich wie die Disruptoren) aus der Perspektive des naiven Amateurs, deutet und antizipiert Entwicklungen, in einem Themenfeld, das er eigentlich nicht kennt.

Für das vorliegende White Paper wurden sieben Expertinnen und Experten interviewt. Ein Verzeichnis der Gespräche findet sich im Anhang. Die Gespräche dienten der Absicherung und Inspiration, wobei die vorliegenden Gedanken nicht die Meinungen der Befragten widerspiegeln.


Eine digitale Gesellschaft bringt neue Krankheitsbilder hervor

Gemäss den aktuellen Zahlen im Obmann Bericht 72 leiden Schweizer Erwachsene (2016) zurzeit am häufigsten unter Angststörungen (14%), Depressionen (6.9%) sowie Störungen durch Alkohol (3.4%). Wer sich mit dem Thema “Digitalisierung und Psychiatrie” beschäftigt, wird wissen wollen, ob sich diese Zahlen durch die digitale Transformation verändern. Jenseits der quantitativen Entwicklungen ist zu prüfen, ob eine Gesellschaft der Bildschirme, Daten und Roboter neue Krankheitsbilder mit sich bringt beziehungsweise bestehende verstärkt, verändert oder abschwächt. Dabei sind psychische Leiden weniger gut sichtbar als ein gebrochener Arm oder ein Tumor, zudem sind Mehrfachdiagnosen häufig. Das erschwert Definition, Behandlung und Abgrenzung. Ganz unsichtbar sind die Erkrankungen dann allerdings doch nicht. Denn einerseits führt die biologische Schule der Psychiatrie deren Ursachen auf körperliche Veränderungen zurück – zum Beispiel eine Einschränkung der Signalübertragung zwischen Nervenzellen oder eine Entzündung des Hirns bei Depressiven. Anderseits wird unsere psychische Gesundheit durch Gesichtsausdrücke, BMI oder unsere sozialen Aktivitäten sehr wohl sichtbar. Allerdings bleiben die Zusammenhänge von Ursache und Wirkung im Verborgenen.

Offensichtlich werden jene ein Interesse an neuen Krankheiten haben, die aus neuen Leiden Profit schlagen können

Diese Intransparenz stärkt die Deutungsmacht all jener, die uns beschreiben, diagnostizieren und therapieren wollen. Ein Hilfsmittel, um die Deutungsmacht zu entschlüsseln, sind Zeitdiagnosen. Sie beschreiben gleichzeitig, worunter wir leiden, wer die Deutungsmacht besitzt. Bedroht in ihrer psychischen Gesundheit sind jene, die sich mit (den von den Diagnosen beschriebenen) Veränderungen schwer tun. Tabelle 1 zeigt, in Anlehnung an Bilke-Hentsch (2017), eine Sammlung von Zeitdiagnosen und davon abgeleiteten Bedrohungen. Heinz (2014) präzisiert die psychische Erkrankung über die Einschränkung der sozialen Teilhabe (S. 343). Seiner Meinung braucht es dazu einen emotional abgestimmten Bezug zur Umwelt, eine affektive Schwingungsfähigkeit, Vertrautheit mit der eigenen Artikulation sowie die Fähigkeit, die leiblich beschränkte Perspektive zu übersteigen. Die identifizierten Leidensbilder oder eben die eingeschränkte sozialen Teilhabe setzen Schwerpunkte in Forschung und Therapie. Damit verweisen sie ebenso auf Entwicklungsrichtungen der Disziplin wie auf Märkte der Zukunft. Die Arbeiten von Foucault und in jüngerer Zeit von Byung-Chul Han sind hoch aktuell - machen sie doch klar, dass beim Betrachten des “Wahnsinns” immer Machtfragen im Spiel sind. Die Mächtigen bestimmen ebenso über die Grenze von “normal” und “nicht normal”, wie darüber, wie mit dem Nicht-Normalen zu verfahren ist.

    • Titel der Zeitdiagnose
    • Risikogesellschaft
    • Multioptionsgesellschaft
    • Beschleunigung
    • Das unternehmerische Selbst
    • Das erschöpfte Selbst
    • Alone Together
    • Die grosse Gereiztheit
    • Nichts ist, wie es scheint
    • Autor und Publikationsjahr
    • Beck (1992)
    • Gross (1994)
    • Rosa (2004)
    • Bröckling (2007)
    • Ehrenberg (2010)
    • Turkle (2011)
    • Pörksen (2017)
    • Butter (2018)
    • Thematisiertes Leiden
    • Angst
    • Komplexität
    • Beschleunigung
    • Stress
    • Depression
    • Einsamkeit
    • Empfindlichkeit
    • Paranoia

Tab. 1 Zeitdiagnosen und psychische Leiden


Gegenwärtig dominiert die digitale Transformation und die damit einhergehende Beschleunigung und Vernetzung die Deutung unserer Zeit (vgl. exemplarisch Mayer-Schönberger & Range (2017), Rosa (2005), Laux (2014)). Entsprechend wichtig sind die Plattformen des Silicon Valley. Sie sind nicht nur die gegenwärtigen Machtzentren. Mit der technologischen Innovationsführerschaft gehen ökonomische und (geo)politische Macht einher. Anhand ihrer Visionen und Werte lässt sich antizipieren, was heute vorausgesetzt wird, um “normal” zu sein, an der Gesellschaft teilzuhaben und was allenfalls zu tun ist, sollte dies nicht der Fall sein. Offensichtlich ist dieses Narrativ stark von Selbstoptimierung und Selbstreflexion geprägt. Vielleicht haben wir es gar mit Neo-Religionen zu tun, wobei neue Maschinenbilder unsere Vorstellungen des Menschlichen ins Wanken bringen. Ein Roboter ist nicht mehr ein dummes Ding im Eisengewand. Wie im Film “Her” antizipiert, wird er zum Wesen, das uns jeden Tag besser versteht. Umgekehrt stellen wir uns die cyborgähnlichen Menschen mit kleinen Robotern in den Blutadern, Chips unter der Haut und ausgelagerten Gedächtnissen vor. Diese Umdeutungen kann die Psychiatrie nicht ignorieren. Sie muss sich der Frage stellen, was ein Mensch überhaupt ist, und welcher Art seine Defizite sein können.

In der Folge werden vier Ansätze vorgestellt, wie die digitale Gesundheit unsere psychische Gesundheit beeinträchtigen könnte. Die Überlegungen folgen einer soziologischen Definition von Gesundheit (im Gegensatz zu einer rein körperorientierten Betrachtung des Kranken).

Gefahren der neuen Arbeitswelt

Durch neue Arbeitsverträge -formen und -welten sowie durch mehr Transparenz (der Netzwerke, Fähigkeiten und Performance) verstärkt die Digitalisierung die Ökonomisierung der Arbeit. Kritische Beobachter gehen von einer Superstar-Ökonomie aus, in der wenige gewinnen und viele um das finanzielle Überleben kämpfen. Man hat Angst, durch Roboter, Automaten und künstliche Intelligenz seinen Job zu verlieren oder fühlt sich durch die hypervernetzte Arbeitswelt (mit ihren neuen Bürokonzepten, Organisationsformen und digitalen Hilfsmitteln) unter Druck gesetzt. Andere Führungsverständnisse, ein lockerer Umgang mit Veränderung und neue Kompetenzen sind gefragt. Dazu gehören Kreativität, Wissensmanagement, Selbstmarketing oder auch die Fähigkeit, sich abzugrenzen. Aus Sicht der Psyche sind die Intensivierung und Verdichtung der Arbeit, die gehäufte Unterbrechung oder Ablenkung durch eMail, Social Media und co. oder das Gefühl der permanente Kontrolle relevant. Aus diesen Veränderungen folgt Stress. Die Arbeitsplatzsicherheit weicht dem Arbeiten in Projekten. Identität kann dadurch weniger an Rollen, Strukturen und Statussymbolen festgemacht werden, sie muss innerlich hergestellt werden. Gerade bei den Gewinnern der Vergangenheit macht sich Statusangst breit. Man fühlt sich unter Druck, erschöpft und hat Angst seine Privilegien zu verlieren.

Gescheiterte Individualisierung

Die Hyperindividualisierung schreibt uns vor, einen ganz eigenen Weg durchs Leben zu finden. Die dafür möglichen Wege sind digital stets nur ein Klick entfernt. Gleichzeitig verlieren die Strukturen, Gemeinschaften und Rituale der Vergangenheit ihre Bindungskraft. Religionen, Berufsbilder, Biographien, Nachbarschaft, Vereine oder die klassische Familie: Alles verflüssigt sich. So sehr Individualisierung befreit, ist sie auch anstrengend. Das macht uns anfällig für Verschwörungstheorien, die Strahlungskraft autoritärer Herrscher, fundamentalistische Religionen sowie die Empfehlungen der Algorithmen. Um die Freiheiten unserer Zeit zu nutzen, braucht es Selbstreflexion und das Selbstbewusstsein, die eigentlich vorhandenen Möglichkeiten zu erproben. Sonst drohen Manipulation, Ausnutzung und Selbstverlust. Eine gescheiterte Individualisierung zeigt sich in Form der Einsamkeit oder alternativ im überzogenen Selbstbezug. Im Narzissmus geht die gesunde Distanz zu sich selbst ebenso verloren wie im Zwang sich als Quantified Self ständig zu vermessen oder im Zwang des Hypersex. Das Scheitern hat einen Bezug zum Körperlichen, wenn man sich vor lauter digital gespiegelter Muskeln und Schönheiten selbst nicht mehr erkennt.

Schwierigkeiten im Synchronisieren digitaler und analoger Realitäten

Alle unsere Beziehungen, Erlebnisse und Gedanken führen künftig in den digitalen Raum – wenn wir uns per WhatsApp unterhalten, wir während dem Fernsehen etwas auf dem Second Screen nachschauen, uns in einer fremden Stadt vom Smartphone leiten lassen. Im negativen Fall minimiert die digitale Überlagerung unsere sozialen Kontakte und die Erlebnisse in der Gemeinschaft. Probleme für die psychische Gesundheit entstehen, wenn man den Bezug zur analogen Realität verliert, sich im Digitalen isoliert: in Videospielen, Chats oder auf Pornokanälen. Realitätsverlust tritt auch auf, wenn jemand wie beim Ghosting seinen Gefühlen ausweicht, von den multiplen Angeboten des Erlebens überfordert ist (FOMO) oder wenn im Internet unterschiedliche Persönlichkeiten ausgelebt werden, diese Vielfalt jedoch nicht mehr orchestriert werden kann. Uneinig wird man sich in der Beurteilung der Tatsache sein, dass Menschen vermehrt mit Maschinen sprechen und mit diesen ihre Gefühle teilen. Für die einen ist das die Zukunft, für andere eine soziale Störung. Auch neue Formen des Paranoiden könnten hier angeführt werden (bedeutet Digitalisierung doch, sich nie sicher zu sein, wer wann wo wie mithört und -sieht).

Im Internet befriedigte Süchte

Als Parallel- oder Spiegelwelt entstehen im Internet ebenso neue Süchte wie neue Möglichkeiten, um diese zu befriedigen. Wenig hilfreich in einer differenzierten Auseinandersetzung mit dem digitalen Raum ist die Annahme einer allgemeinen Internetsucht. Denn in der hier vertretenen Vorstellung einer doppelt gewordenen Realität ist alleine der Aufenthalt im Digitalen nicht per se besorgniserregend. Im Gegenteil werden gerade hochqualifizierte Wissensarbeitende den ganzen Tag online sein, passiert doch Wissensarbeit in und durch das Internet. Wir leben fortan gleichzeitig analog und digital. Süchtig kann man aber natürlich nach Aufmerksamkeit (also nach Likes, News und Stimuli) und dem Eingehen von Risiken sein, nach Geldspielen, dem Handeln mit Aktien, Bitcoins, Online-Spielen oder nach sexueller Erregung. Das Internet bietet also neue Verlockungen beziehungsweise neue Wege, um seine Süchte zu befriedigen. Problematisch wird die Zeit vor dem Bildschirm, wenn man merkt, dass man keine analogen Erlebnisse mehr hat oder wenn durch das übermässige digitale Abtauchen die Qualität der Erholung (insbesondere des Schlafens) leidet. Schliesslich können finanzielle Nöte in Folge digital befriedigter Süchte ein Problem sein.

Die Psychiatrie wird der Frage nicht ausweichen können, ob und wie sich der Mensch in der digitalen Transformation verändert. Sollte sich der Mensch tatsächlich verändern, würde vieles, was heute als Gefährdung der Gesundheit erscheint, letztlich Normalität. Beim Aufkommen der Eisenbahn hatte man Angst, wir würden das neue Verhältnis von Raum und Zeit psychisch nicht bewältigen können. Auch im unnatürlichen „Ruckeln“ der Züge sah man eine Gefahr – könnte uns dieses doch unnatürlich sexuell erregen. Von der Psychiatrie ist zweitens zu prüfen, ob die Krankheitsbilder einer digitalen Gesellschaft tatsächlich genuin neu, oder nur neue Erscheinungen von alten Krankheiten sind. Dann würde die Digitalisierung in erster Linie neue Begriffe und weniger neue Problemen mit sich bringen. Bilke Hentsch schlägt – um ein Chaos zu vermeiden – Fokussierung, die Orientierung an Lebenswirklichkeiten 4.0 oder Leitlinien im Sinne des DSM-5 vor. Offensichtlich werden jene an neuen Begriffen und Krankheiten interessiert sein, die durch die Digitalisierung neue Möglichkeiten der Profilierung erkennen - oder noch expliziter formuliert, aus den neuen Leiden Profit schlagen könnten (durch Medikamente, Therapien, Ratgeberliteratur etc.). Das können neue Wettbewerber sein, oder aber Kliniken und Universitäten, die sich mit Hilfe der Digitalisierung neu oder präziser positionieren.


Daten verändern Diagnose, Prävention, Behandlung und Aftercare

Das vorliegende White Paper verfolgt die These, dass die Datengesellschaft in der psychosomatischen Medizin weitreichendere Konsequenzen haben wird als in der somatischen. Erstens, weil deutlich mehr Daten über die psychische als über die somatische Gesundheit zur Verfügung stehen werden und weil zweitens diese quasi beiläufig im digitalen Alltag anfallen. Wir befinden uns permanent in einer Laborsituation, wobei unsere Psyche für zahlreiche Institutionen einsehbar ist (die für uns unsichtbar bleiben). Persönliche Daten bilden die Grundlage für Metadaten und Anwendungen der künstlichen Intelligenz (KI). In der Forschung nutzt man Metadaten, um neue Krankheiten, beziehungsweise Zusammenhänge zwischen diesen zu erkennen oder zu antizipieren, wie sich Krankheit und Gesundheit entlang von Netzwerken verbreiten (vgl. dazu die Grippe-Forschung oder die Vermehrung von Glück. KI wird in der Bild- und Gesichtserkennung zum Einsatz kommen. Sie analysiert Herzrhythmus-Kurven, berechnet, wie sich Zahnfehlstellung entwickeln und generiert die entsprechenden Zahnspangen oder diagnostiziert Hautveränderungen – gemäss einigen Studien bereits zuverlässiger als ein Mensch. Auch um Krankheiten zu antizipieren, wird auf KI gesetzt. Deep Patient ist eine Anwendung, die auf Basis von Daten voraussagt, woran jemand künftig erkranken wird. Schizophrenie wird auch voraus gesagt – allerdings verstehen weder Mensch noch Maschine die Urasche-Wirkungszusammenhänge.

Darmbakterien könnten künftig auch in der Psychiatrie eine Rolle spielen – sowohl als Indikator wie auch als Einflussgrösse für die Behandlung von Depression, Stress und Autismus

Um darüber zu spekulieren, wie Daten die Psychiatrie der Zukunft prägen, muss man sich zuerst die möglichen Quellen anschauen, die (potenziell) für Diagnose, Prävention, Behandlung und Betreuung psychologischer Leiden genutzt werden könnten. In Frage kommen sämtliche Daten, die unsere psycho-soziale Gesundheit, deren Entwicklung und die Einflüsse auf diese beschreiben. Zu den bisher in der Medizin verwendeten Datenquellen gehören Blut, Urin, Puls und Blutdruck. Bildgebende Verfahren wie Hirnscans, Ultraschall, Röntgen und MRI produzieren zusätzliches Datenmaterial. In Zukunft werden neben der DNA auch unerforschte Informationsquellen unseres Körpers eine Rolle spielen (Stichwort Multiomics. Besonders interessant scheint das Mikrobiom. Unsere Darmbakterien könnten auch in der Psychiatrie eine Rolle spielen, gilt das Mikrobiom doch sowohl als Indikator und Einflussgrösse für die Behandlung von Depression, Stress und Autismus. Durch die Digitalisierung entstehen viele neue Quellen (vgl. Tab 2.). Im Unterschied zur Vergangenheit geht es nicht mehr nur um Körperdaten, sondern wesentlich um Daten, die durch unsere digitale Aura produziert und nicht mehr in der Praxis eines Arztes erhoben werden. Aber nur wer auf unsere Daten zugreifen kann, profitiert von diesen. Umgekehrt wird man von Datenbesitzern und -verarbeitern abhängig.

    • Alte Daten - fallen in der Praxis an
    • Aussonderungen: Atem, Urin, Speichel, Stuhlproben
    • Kreisläufe: Blutwerte, Puls, Blutdruck
    • Bildgebende Verfahren: Röntgen, Ultraschall, MRI
    • Genom
    • Mikrobiom, allgemein Multiomics
    • Neue Daten - fallen im Alltag an
    • Beziehungsprotokolle: SMS, eMail, Chat
    • Soziale Medien: Text, Bilder, Musik
    • Aktivität: Bewegungs-, Schlaf- und Geodaten
    • Mikrobewegungen: Eye-Tracking, Scroll & Swipe, Fahrstil
    • Stimme

Tab. 2 Datenquellen der künftigen Psychiatrie


Zu den Datenquellen der Zukunft gehören die sozialen Medien und die digitalen Protokolle unserer Beziehungen. Je mehr wir digital kommunizieren, je mehr Beziehungen aller Art wir digital pflegen (durch SMS, eMail, Chats), desto mehr Informationen hinterlassen wir über unser emotionales Befinden. Zusammen mit unseren Beziehungsprotokollen erstellen wir mit den Beiträgen in den sozialen Medien ein digitales Tagebuch. Sie umfassen vermehrt Bilder – in diesem Zusammenhang ist auf die gehäufte Nutzung von Instagram zu verweisen. Ungewollt hinterlassen wir Daten über unsere psychische Gesundheit, zum Beispiel durch Syntax und Wortwahl. Unsere Instagramme zeigen, wie wir die Welt wahrnehmen, was uns beschäftigt, mit wem wir wo unsere Zeit verbringen. Der Gesichtsausdruck verrät, wie wir uns fühlen. Bekannt geworden ist eine Studie, die Instagram nutzte, um depressive Verstimmungen zu erkennen. “Von den 166 Instagram-Nutzern, die an der Studie teilgenommen haben, erhielten 70 Prozent anhand ihrer geposteten Fotos die richtige Diagnose Depression”. Dazu wurden 44.000 Fotos bezüglich Farben, Metadaten und Gesichtsausdrücken analysiert. Besonders relevant sind die eingesetzten Filter. “Depressive Teilnehmer filtern häufig Farbe aus den Bildern oder verwandeln ein buntes in ein schwarz-weisses Bild. Die gesunden Teilnehmer hingegen bevorzugten aufhellende Filter wie den Valencia-Filter. Auch stellten sie mehr und häufiger Bilder auf die Plattform“. In eine ähnliche Richtung geht die Vermutung, dass gehörte Musik etwas über unseren Gefühlszustand verrät.

Ebenso von Interesse sind unsere Netzwerke, spiegeln sie doch zumindest bei digital aktiven Menschen deren soziale Gesundheit. Wer intensiv und mit unterschiedlichen Menschen kommuniziert, verfügt über eine intakte Gesundheit. Ähnliche Informationen lassen sich aus unseren Geodaten generieren. Sie erzählen etwas über unseren Aktivitätsradius und unsere Ruhephasen. Interessant sind in beiden Fällen Verhaltensveränderungen – zum Beispiel eine stetige Reduktion des Bewegungsradius. Datenbesitzer werden vermehrt Dinge erkennen, bevor wir uns selbst einer Veränderung bewusst werden. Diese Voraussicht ist deshalb bedeutsam, weil man von fünf bis sechs Jahren ausgeht, die zwischen den ersten Symptomen einer psychischen Erkrankung und deren Behandlung liegen. Dieser Zeitverlust kann sich negativ auf die Heilung auswirken und führt zu vergleichsweise hohen Kosten im Gesundheitswesen (vgl. Schulz, 2018, S. 112). Zu den neuen Digitaldaten gehört unsere Stimme. Algorithmen sollen in dieser zum Beispiel Depressionen erkennen können. Vermehrt wird das Internet der Dinge unsere Gesundheit beiläufig erfassen – durch intelligente Lautsprecher und Kameras. Nicht nur unsere grossen Bewegungen, sondern auch unserer Wischen auf dem Smartphone oder unser Fahrstil sagen etwas über unsere psychische Gesundheit aus. Intelligente Kameras könnten gar verfolgen, wie sich die Bewegungsmuster unserer Augen verändern. An der Universität Edinburgh wird erforscht, welche Informationen durch Eyetracking erhoben werden können.

Durch das Internet der Dinge werden Diagnosen und Behandlungen ohne menschliche medizinische Intermediäre möglich. Die Maschine beobachtet, analysiert, warnt und interveniert. In diesen Szenarien einer datenorientierten Medizin tauchen neuartige Designfragen für das Gesundheitssystem der Zukunft auf, viele davon sind normativ. Es ist zunächst unklar, für welche Leiden sich die künftige Psychiatrie zuständig fühlt und wie sie zwischen Krankheit und Unbehagen unterscheiden soll (vgl. Kapitel 1). In einer Big-Data-Medizin steht zudem zur Diskussion, ob vordefinierte Krankheitsbilder überhaupt noch Sinn machen – oder man vielmehr von einem Netzwerk von Symptomen ausgehen sollte. Das würde eine Personalisierung der Behandlung beziehungsweise eine Explosion der Anzahl Krankheitsbilder nach sich ziehen. Es gäbe dann so viele Krankheiten wie Menschen, der Moment der Diagnose verflüssigte sich. Aber welche Daten werden die Algorithmen verrechnen? Wer sicher die Qualität der Daten? Und wie transparent sind die Datensammler? Im Unterschied zu früher die Algorithmen permanent, wie es uns geht. Sie prüfen, was für Fotos wir posten, welche Musik wir streamen, ob wir im Wohnzimmer streiten, intelligente Toiletten analysieren täglich unser Mikrobiom. Einen Grossteil dieser Daten produzieren wir freiwillig - mitunter, um unser emotionales Befinden zu erfassen (vgl. dazu Mau, 2017). Ein Selfie dient auch der Selbstbeobachtung und -findung. Bereits das Sichtbarmachen kann eine Verbesserung der Gesundheit bewirken, zum Beispiel mehr physische Aktivität durch das Zählen der Schritte.

Analog zur Dystopie Minority Report würden Krankheiten behandelt, bevor sie überhaupt ausbrechen.

Aufgrund dieser alltäglichen Daten ist die Verbreitung von “Pull-Ansätzen” in der Psychiatrie zu erwarten. Bei diesen machen Alarmsysteme frühzeitig auf negative Entwicklungen aufmerksam. Dabei könnten subkutane Verteiler von Medikamenten, Anwendungen der Bioelektronik oder Chatbots zum Einsatz kommen. Bei grösseren Störungen informieren die Alarmsysteme Peers, Angehörige oder direkt medizinisches Personal. Prävention und Überwachung liegen offenkundig nahe beieinander. Unabhängig von der Wünschbarkeit dieser Alarmsysteme fällt schnell auf, dass sich die nötigen Datenquellen weitgehend dem Zugriff heutiger medizinischer Institutionen entziehen. Im Gleichschritt mit neuen Datenquellen und Analysemethoden dürften gegenwärtig also auch die künftig relevanten Institutionen der Psychiatrie entstehen. Bereits heute ist die Datennutzung umstritten. Es wird argumentiert, dass man Ursache-Wirkungen nicht durch Daten abbilden kann (oder reduzieren sollte). Der Mensch sei mehr als ein Datensatz. Neue Datenquellen werden die Skepsis verstärken. Kritisiert werden dürfte vor allem der Predictive Ansatz. Analog zur Dystopie Minority Report würden Krankheiten – auch vor dem Hintergrund der hohen Kosten bei zu später Intervention – behandelt, bevor sie ausbrechen. Übergeordnet ist zu reflektieren, inwiefern das Leid zum menschlichen Entwicklungsprozess dazugehört. Möglicherweise sind gewisse Schritte in der Entfaltung einer Persönlichkeit nur möglich, wenn man auf Widerstand trifft. Das bedingt unsicher, traurig, verzweifelt zu sein. Diese menschlichen Eigenschaften werden interessanterweise regelmässig angeführt, um die Unterschiede zwischen Mensch und Maschine zu beschreiben. Es sind diese Unterschiede, welche die Psychiatrie der Zukunft nicht vernachlässigen sollte. Sonst degeneriert der Mensch zur Maschine, und die Behandlung durch den Psychiater zum Update.

Eine Disruption der heutigen Verhältnisse ist schliesslich deshalb zu erwarten, weil die Pharma-Industrie durch Biotech-Firmen und neue Möglichkeiten von Einmal-Behandlungen (statt lebenslanger Verordnung von Medikamenten) unter Druck gerät (vgl. Schulz, 2018). Sehr wahrscheinlich wird die Pharmaindustrie deshalb verstärkt mit Daten statt Chemie arbeiten wollen. All diese Entwicklungen bringen die Frage mit sich, wer befugt ist, medizinische Diagnosen zu stellen. Im vor-digitalen Gesundheitssystem gab es dafür klar definierte Instanzen. Um eine im System (bestehend aus Ärzten, Spitälern, Apotheken und Krankenkassen) akzeptierte Diagnose zu stellen, brauchte man eine staatlich anerkannte Ausbildung. Nun aber verteilen sich unsere Daten wie Feinstaub. Damit vervielfachen sich die Instanzen, die mit ihnen unsere Gesundheit verbessern wollen. Aus Datenschutz-Sicht wird zu klären sein, welche Automatismen in einem künftigen Gesundheitssystem zulässig sind. Stehen wir vor einem Szenario, in dem ein digitaler Psychiater ständig zuhört und falls nötig eingreift? Alexa, der intelligente Lautsprecher von Amazon, sorgt regelmässig für Schlagzeilen – zuletzt weil sie ein intimes Gespräch aufgezeichnet und unbefugt weitergeleitet hat. Das ruft nach Regulierung - wobei sich ähnliche Probleme wie bei Uber und Airbnb zeigen werden. Nicht nur handelt es sich um globale Phänomene, die national kaum zu regeln sind. Sondern der Regulator hat auch einen Geschwindigkeitsnachteil. Die Daten sind längst verstreut und die Disruptoren werden schneller als staatliche Akteure neue Instrumente für die Diagnose, Prävention und Behandlung unserer psychischen Gesundheit entwickeln.


Smarte Maschinen, Räume und Pillen erlauben neue Therapiemöglichkeiten

Die Hilfsmittel, um psychische Erkrankungen zu behandeln, haben sich immer wieder verändert. Noch vor weniger als 100 Jahren wurden Eigenblut, Schlafkuren, Schneebäder, Hirnoperationen und Elektroschocks eingesetzt (vgl. Ott). Aus Sicht der Gegenwart wirken damit Vergangenheit und Zukunft der Psychiatrie gleichermassen absurd. In den nächsten Jahrzehnten dürften sich durch die Digitalisierung Behandlungswege auftun, die im Moment futuristisch anmuten. Rückblickend werden sie stellvertretend für einen Richtungswechsel in der dominierenden Betrachtungs- und Vorgehensweise psychischer Erkrankungen stehen. Gemeinsam ist den neuen Hilfsmitteln eine Integration von Maschinen in Therapiedesigns, eine intensivere Nutzung von Daten – und damit eine höhere Personalisierung und Objektivierung sowie eine stärkere Orientierung am Prinzip der Prävention. Neue Hilfsmittel werden helfen Stimmungen, Netzwerke, Stressoren und Krankheitsverläufe präziser, frühzeitig und quasi beiläufig erkennen. Ein weiteres gemeinsames Merkmal der neuen Ansätze ist deren Ortsunabhängigkeit. Die Patientin begibt sich nicht mehr in eine Praxis beziehungsweise wird sie weniger häufig in einer Klinik stationiert. Dadurch steigt ihre Unabhängigkeit. Das ist besonders für die steigende Anzahl älterer Menschen relevant, die unter Demenz oder Altersdepressionen leiden.

Smarte Maschinen

Das offensichtlichste digitale Hilfsmittel in der Zukunft der Psychiatrie sind Chatbots. Schon heute sind Videotelefonie, Chats, SMS, eMail Teil von Therapien. Allerdings werden neue Hilfsmittel überwiegend in der Administration eingesetzt. Gemäss einer aktuellen Untersuchung setzt nur etwa die Hälfte der Psychotherapeuten digitale Hilfsmittel für die Intervention ein. Noch “digitaler” als Chats und Skype-Therapien gehen eLearning ähnliche Selbsthilfeprogramme und Roboter-Therapeuten (Chatbots). Trotz der Skepsis vieler, gibt es auch Vorteile von Therapieformen, bei denen Roboter zum Einsatz kommen. Zunächst ist auf ein reduziertes Schamgefühls hinzuweisen. Manchen von uns wird es einfacher fallen, mit einer Maschinen über persönliche Probleme wie Einsamkeit, erlittene Gewalt, Schuldgefühle oder Sucht zu sprechen. Roboter sind distanzierter und vielleicht gerade dadurch die besseren Gesprächspartner für psychisch Erkrankte. Sie sehen uns nicht in die Augen, wenn wir weinen, beurteilen uns nicht nach unserem Äusseren. Auch der Mangel an Psychotherapieplätzen kann ein solches Angebot sinnvoll machen. Schliesslich vergisst die Maschine nicht, sie kann sich also sehr genau daran erinnern, was ein Mensch gesagt oder eben geschrieben hat. Berger (2017) verweist auf Schweden, wo im Karolinska Universitätsspital bereits die Hälfte der Patienten internetgestützte Selbsthilfeprogramme wählen (statt einer Face-2-Face-Therapie).

Smarte Räume

Smarte Umgebungen sind ein zweites digitale Hilfsmittel, das künftig in der Psychiatrie eine Rolle spielen könnte. Eine digital erweiterte oder situationsspezifisch angepasste Umgebung soll positiv auf die Gesundheit einwirken. Gesteuert können zum Beispiel Licht, Musik oder auch Projektionen an Wänden und Scheiben. Künstliche Intelligenz könnte unsere Wohn- und Arbeitsräume so optimieren, dass wir uns wohl fühlen. Dem Design unserer Wohn- und Arbeitsumgebung geht die datenbasierte Analyse unserer Stimmungen und Gefühle voraus. Intelligente Kameras scannen unsere Bewegungen und unsere Gesichtsausdrücke. Mit Hilfe des Internets der Dinge wird es darüber hinaus möglich, Objekte des Alltags zu beleben. Kaffeemaschinen, Spiegel, Autos oder Bücher beginnen mit uns zu sprechen. Anders betrachtet erhält die künstliche Intelligenz einen Körper. Ebenso denkbar sind quasi menschliche Roboter, Hologramme und belebte Plüschtiere. In Japan kommen bereits smarte Robben in der Pflege von Demenzkranken zum Einsatz. Diese Personifizierung und Emotionalisierung der Maschinen dürfte deren Akzeptanz in künftigen Versorgung deutlich erhöhen.

Smarte Realitäten

Smarte Realitäten teilen sich in digital erweiterte und virtuelle Realitäten. Der Zugang zur Augmented Reality findet noch weitgehend über das Smartphone statt. Die Kameras der Smartphones werden Browser. Sie erkennen, was sie sehen und blenden bei Bedarf Hinweise ein – Wegbeschreibungen, Fahrplanauskünfte oder Übersetzungen. Aus Sicht der Psychiatrie könnten Live-Chats mit Peers, Therapeutinnen und Chatbots sinnvoll sein oder Tips, um Stresssituation zu bewältigen. Schon lange erwartet man, dass die digital erweiterte Realität künftig auf smarten Brillen oder Kontaktlinsen stattfindet. Bei virtuellen Realitäten wie Videospielen fehlt der Bezug zur analog erlebten Wirklichkeit. VR-Anwendungen werden bereits in Expositionstherapien zur Behandlung von Boderline-Störungen, Höhen- und Flugangst, Phobien, posttraumatischen Belastungsstörungen, Phantomschmerzen und Essstörungen eingesetzt. Auch die Interaktion mit einem digitalen Kind-Ich bei Depressionen scheint vielversprechend. Virtuelle Konfrontation dürfte häufig praktikabler als eine in vivo Exposition sein. “Expositionstherapie in virtuo eignet sich besonders gut für Patienten, die eine Exposition in vivo ablehnen oder bei denen furchtauslösende Situationen schwer oder nur mit hohem finanziellem Aufwand herstellbar sind”.

Smarte Pillen mit RFID Chips kommunizieren mit den Rechnern von Ärzten und melden beim Kontakt mit Magensäure, ob sie eingenommen wurden.

Smarte Pillen

Eine dritte Art von künftig denkbaren digitalen Hilfsmitteln sind intelligente Pillen. Diese beruhen auf der RFID-Technologie. Damit werden kleine Chips bezeichnet, die mit dem Internet kommunizieren können. Wir kennen diese zum Beispiel vom Swiss Pass, wo unsere Daten in einer Plastikkarte gespeichert sind. Seit einigen Jahren überträgt die Kreditkarte beim Hinhalten an das Zahlungsgerät die notwendigen Informationen. Smarte Pillen mit RFID Chips kommunizieren mit den Rechnern von Ärzten und melden beim Kontakt mit Magensäure, wenn sie eingenommen wurden. Otsuka Pharma hat eine entsprechende Anwendung von Aripiprazol entwickelt, das bei der Behandlung von Schizophrenien und manischen Episoden bei bipolaren Störungen eingesetzt wird. Smarte Pillen sind deshalb interessant, weil eine regelmässige Einnahme des Medikaments als entscheidender Faktor für den Therapieerfolg von psychischen Erkrankungen gilt. Allerdings zeigt sich hier die Nähe zu Überwachungsszenarien ebenso deutlich wie bei der Kontrolle durch intelligente Lautsprecher. Ebenso denkbar sind Implantate, die Wirkstoffe datenbasiert durch einen Verteiler abgeben, der unter die Haut gesetzt wird. Im Form des Verhütungsstäbchens ist eine solche Anwendung längst massentauglich geworden.

Smarte Beziehungen

In eine andere Richtung zielen Peer-2-Peer Ansätze. Dabei handelt es sich um Angebote, bei denen sich (ehemalige) Patienten gegenseitig unterstützen. Denkbar sind in Ergänzung zur bereits erwähnten Unterstützung durch Peers in Stresssituationen auch Selbsthilfegruppen und therapieähnliche Gespräche, die von ehemaligen Patienten moderiert werden. Wer selbst krank war, geniesst bei Patienten eine höhere Akzeptanz - ähnlich wie Praktiker bei einem praktisch interessierten Publikum. Die Interaktion zwischen Betroffenen ist sowohl analog als auch digital denkbar. Das Internet hat den Vorteil, dass die Barriere für die Kontaktaufnahme sinkt und Interventionen jederzeit möglich sind. Eine aktuelle Studie(2018) bei jungen Shizophrenie-Patienten ist vielversprechend. Zudem schaffen digitale Hilfsmittel die Basis, um gemäss dem Tinder-Prinzip passende Personen miteinander ins Gespräch zu bringen. Peer-Vermittlung gibt es bei Chronisch Kranken. Wie bei Dating-Plattformen kann man seinen Gesprächspartner, unter anderem aufgrund von Alter, Geschlecht, Erkrankung und Distanz auswählen. In Zukunft könnten smarte Maschinen das Matching übernehmen. Sie werden vielleicht besser als wir selbst erkennen, welche Gesprächspartner, Fragen, Tipps und Erlebnisse zur einer Verbesserung unseres Zustandes führen. Das würde ihnen auf Basis gesammelter Daten ermöglichen, die richtigen Menschen zum richtigen Zeitpunkt in Therapie und Prävention einzuschalten.

Es nicht davon auszugehen, dass diese neuen Hilfsmittel die bestehenden Behandlungswege sofort verdrängen. Im Gegenteil wird es lange dauern, bis sich sowohl überzogene Erwartungen als auch unbegründete Skepsis legen. Neue Hilfsmittel bedingen zudem nicht nur eine Anpassung der Fähigkeiten der involvierten Personen sondern wesentlich einen Kulturwandel der Institutionen (vgl. Kapitel “Hypervernetzte Arbeitswelten”). Ein Blick in aktuelle Studien spricht aber für eine laufende Erweiterung der heutigen Ansätze. Schon unbegleitete Trainingsprogramme können die Symptome von Betroffenen deutlich verbessern. Allerdings gehen Selbsthilfeprogramme ohne therapeutische Begleitung bisher mit hohen Abbrecherquoten und reduzierter Wirkung einher (vgl. Berger, 2017). Allgemein hängt die Wirkung neuer Hilfsmittel nicht nur von den Krankheitsbildern ab, sondern auch von der Einbettung in das Therapiedesign sowie vom Alter und Geschlecht der Patienten. Auch die Affinität des einsetzenden Personals beeinflusst die Wirkung (vgl. auch Lüttke, Hautzinger & Fuhr, 2018).

Zusammenfassend könnte man in Anlehnung an Berger, 2018 auf die folgenden Fragen verweisen, die in den nächsten Jahrzehnten zu klären sind:

Schliesslich sind eine Reihe von ethischen Fragestellungen zu reflektieren. Sie werden gebündelt im letzten Kapitel dieser Studie thematisiert.


Die Digitalisierung begründet ein neues Paradigma in der Psychiatrie

Die Gleichzeitigkeit von neuen Begriffen, um psychische Leiden zu beschreiben (Kapitel 1), von neuen Ansätzen, um diese zu diagnostizieren (Kapitel 2) sowie neuen Hilfsmittel der Behandlung (Kapitel 3) stellen zur Diskussion, ob die Psychiatrie vor einschneidenden Veränderungen steht. Etwas präziser könnte man die These aufstellen, dass durch die Digitalisierung verschiedene Entwicklungsstränge der Disziplin entstehen. Im Extremfall finden verschiedene Entwicklungen statt, die nicht mehr vereinbar sind. Im Rückgriff auf den Wissenschaftstheoretiker Kuhn ist zu prüfen, ob die Digitalisierung ein neues Paradigma der Psychiatrie begründet. Er definiert ein solches als Bündel von „allgemein anerkannten wissenschaftlichen Leistungen, die für eine gewisse Zeit einer Gemeinschaft von Fachleuten massgebende Probleme und Lösungen liefern“. Ein neues Paradigma unterscheidet sich vom anderen durch das, was beobachtet und überprüft wird, durch die Art der Fragen, die gestellt und geprüft werden. Kommt es zum Paradigmenwechsel, werden Begriffe und Lösungen der Vergangenheit als ungenügend für die Lösung vorliegender Probleme betrachtet. Übertragen auf die Psychiatrie würde eine neue Gruppe von Expertinnen und Institutionen entstehen, die psychische Leiden neu beschreiben, behandeln und versuchen zu vermeiden. Neue Paradigmen stehen für neue Glaubensgrundsätze. In Bezug auf Digitalisierung kann man zum Beispiel an die Bedeutung von Daten glauben, die Fähigkeiten der Maschinen oder an neue Heilsbringer und Teufelsdiener im Silicon Valley.

In der Psychiatrie sind Richtungsänderungen oder -streitigkeiten nicht neu. Für Aussenstehende sind gegenwärtig zwei Stränge erkennbar. Die sozialorientierte Psychiatrie will Leiden lindern, indem Patienten an ihrer Beziehung zu sich selbst arbeiten. Dadurch sollen sich auch die Beziehungen zu Mitmenschen verbessern. Dagegen versucht die körperorientierte Psychiatrie das psychische Leiden am Körper beziehungsweise entsprechenden Biomarkern festzumachen. Gesucht werden klare Ursache-Wirkungen-Beziehungen, wobei man mit Medikamenten eine Verbesserung herbeiführen will. In der Tendenz werden “härtere” Fälle dem körperorientierten Strang überlassen. Während man die sozialorientierte Psychiatrie für das starke Vertrauen in subjektive Diagnosen und Interventionen kritisiert, wirft diese dem körperorientierten Strang umgekehrt vor, sich zu wenig um die sozialen Ursachen einer Erkrankung zu kümmern. In einem aktuellen Film über die Psychiatrie klagt ein Patient “Stattdessen sei einzig die medikamentöse Beseitigung der Symptome im Vordergrund gestanden. Nur sieben Minuten dauerten die Visiten der diensthabenden Psychiater pro Tag“.. Zudem wird die Zuverlässigkeit der Biomarker angeprangert. Gemäss Kritiker “erklären sie so gut wie gar nichts; die Effekte sind viel zu klein”. Nun beleuchtet die Digitalisierung interessanterweise (durch Daten) unsere (Selbst)-Beziehungen ebenso auf neue Art und Weise, wie sie (durch neue Forschungsmethoden) das Verständnis für unseren Körper verbessert. Die digitale Neuinterpretation könnte daher eine dritte Schule oder eine neue Variante sowohl der körper- wie auch der sozialorientierten Psychiatrie hervorbringen.

Eine Neuorientierung der Disziplin zeichnet sich nicht nur ab, weil die Digitalisierung neue Menschen- und Krankheitsbilder, Hilfsmittel und Wettbewerber mit sich bringt. Der Blick von Aussen lässt vermuten, dass es in der Disziplin länger keinen Innovationsschub mehr gab. Dieser Stillstand spiegelt sich in der schleppenden Entwicklung von neuen Psychopharmaka. Obwohl der Markt gemessen an der vermutlich wachsenden Anzahl Patienten eigentlich attraktiv sein müsste, könnten vergleichsweise kleine Margen sowie der geringe Reputationsgewinn (im Vergleich zum Beispiel zu neuen Krebsmedikamenten) die Lust der Pharmaindustrie bremsen. In Deutschland wurden Ende 2017 „nur in sieben klinischen Projekten Wirkstoffe gegen Depressionen getestet – dagegen laufen 237 solcher Studien in der Krebsmedizin“. Ein ganz anderer Grund für den Innovationsstau bei Psychopharmaka könnte sein, dass man nach wie vor nicht wirklich versteht, wie und warum jemand psychisch krank wird. Das liegt auch daran, dass das Gehirn ein komplexes Organ ist und die Forschung mit Tieren in diesem Bereich klare Grenzen hat. Ist es doch schwierig eine Katze oder eine Maus nach ihrem Befinden befragen oder auch emotional schwierige Situationen differenziert zu simulieren. Für den Mangel an Innovation werden schliesslich die zerstrittenen beziehungsweise konkurrierenden Schulen innerhalb der Medizin verantwortlich gemacht. Jedenfalls werden die heutigen Behandlungsansätze einst ebenso absurd anmuten, wie heute der Aderlass oder der Drehstuhl für die Behandlung psychischer Leiden.

Abb. 1 Cox Swing als Beispiel eines veralteten Behandlungsweges

Aus den bisherigen Überlegungen lassen sich verschiedene Szenarien für die künftige Psychiatrie ableiten. Dabei sind private Institutionen (und erst recht gänzlich neue Institutionen) in der Wahl ihrer Entwicklungswege freier, müssen sie doch keinen Grundauftrag erfüllen und können auch Patienten ablehnen. So können sie sich frei in Bezug auf Krankheitsbilder und Hilfsmittel positionieren. Aus medizinischer Sicht geht es bei der Positionierung um die Frage, wie man Patienten behandelt, auf welche Erkrankungen man sich konzentriert und was für eine Philosophie in Bezug auf Prävention, Diagnose und Behandlung im Vordergrund steht. Diese Fragen sind abhängig vom Paradigma und spiegeln sich in betriebswirtschaftlichen Fragen. Die Positionierung ist insofern ein wichtiges Thema, als dass die Branche offenbar unter einem Fachkräftemangel leidet. Neben Positionierungen, die voll auf die Karte Digitalisierung setzen, sind ähnlich wie bei Hotels, Banken, Versicherungen oder im Handel strategische Optionen denkbar, die auf den Offline-Trend setzen. Dabei geht es zum Beispiel darum, besser zuzuhören oder ganz auf digitale Hilfsmittel, Daten und sogar auf Medikamente zu verzichten. Norwegen hat diesbezüglich Schlagzeilen gemacht, weil die Regierung eine psychiatrische Klinik bauen lässt, in der auf Medikamente verzichtet wird. Bei der Beleuchtung künftiger strategischer Optionen ist der Trend wichtig, dass immer mehr Interventionen ambulant oder als Home Treatments stattfinden.

Erstens dürften sich Patientinnen aufgrund der nach wie vor existierenden Stigmatisierung psychischer Erkrankungen vermehrt eine ambulante Behandlung beziehungsweise sogar eine Behandlung Zuhause wünschen. Neue Hilfsmittel wie Apps, Therapie via Videokonferenzen, Peer-2-Peer-Foren und virtuelle Realitäten stärken die Ortsunabhängigkeit der Behandlung. Eine Behandlung mit digitalen Hilfsmitteln hat den Vorteil, dass man im Alltag und vielleicht sogar noch beruflich tätig bleibt. Damit wechselt der Fokus von einer institutions- zu einer patientenzentrierten Behandlung. Zudem wird von “einer gewissen Behandlungslücke ausgegangen, insbesondere in der psychiatrisch-psychotherapeutischen Gesundheitsversorgung von Kindern und Jugendlichen sowie in ländlichen Gebieten”. Diese stützt ebenfalls die ortsunabhängige Behandlung. Drittens könnten Psychotherapeuten und Psychiater den Kliniken fernbleiben – weil sie so mehr Freiheiten haben und zudem mehr verdienen. In diesem Zusammenhang ist auf die tiefen Löhne der Psychiaterinnen hinzuweisen. Kinder- und Jugendpsychiatern verdienten 2008 im Durchschnitt 117.000 CHF, Handchirurginnen 414.303 CHF. Der erwähnte Fachkräftemangel könnte auch damit zusammenhängen, dass die heutigen Klinikstrukturen als innovationshemmend beschrieben werden.

Rückblickend auf die bisherigen Ausführungen sind folgende strategische Entwicklungspfade denkbar:

Strategie 1
Pull-Psychiatrie: Erkrankungen verhindern, starke Orientierung an Daten, Integration von neuen Datenquellen, Stärkung der Prävention

Strategie 2
Plattform-Strategie: Home- und Peer-2-Peer Treatment, Fokus auf Vermittlung und Orchestrieren der Versorgung

Strategie 3
Thematische Fokussierung: z.B. auf digitale Nebenwirkungen (vgl. Kapitel 1)

Strategie 4
Neuinterpretation der körperorientierten Psychiatrie, z.b. Fokus auf Genom beziehungsweise Mikrobiom – und damit die Ernährung

Strategie 5
Offliner-Strategie: Verzicht auf Datenquellen und digitale Hilfsmittel, Fokus auf Natur und Mensch, Beziehungsarbeit

Offensichtlich stellt sich nicht nur die Frage, wer ein neues Paradigma ausrufen kann und dieses umsetzt, sondern auch wer ein Interesse an einem neue Paradigma hat. In diesem Zusammenhang macht es Sinn, nochmals auf ein Grundgesetz der digitalen Transformation zu verweisen: Disruption entsteht ausserhalb der Branche. Sie wird von Aussenstehenden quasi erzwungen. Auto-Hersteller werden durch autonome Fahrzeuge bedroht, Banken durch Technologie-Giganten. Aufgrund der Markgrösse ist es kaum erstaunlich, dass Google mit Verily schon lange im Gesundheitswesen tätig ist und auch Amazon und Apple einen Markteintritt erwägen. Den Disruptoren geht es in erster Linie um das Erschliessen neuer Märkte. Voraussetzung dafür sind in der Regel das Besetzen der Kundenschnittstelle, der Zugriff auf neue Technologien, gesammelte Daten sowie Cash-Reserven. Sekundär begehren die Disruptoren die Zerstörung heutiger Institutionen und Strukturen. Für etablierte Wettbewerber bedeutet dies wahlweise das Entstehen von neuen Konkurrenten oder Partnern. In der Psychiatrie sind in Folge der digitalen Transformation disruptive Veränderungen entlang der folgenden Disziplinen denkbar:

Diese potenziellen Disruptoren zeigen auf, welche Fähigkeiten im Sinne eine Skill Shift künftig für eine innovative Psychiatrie eine Rolle spielen könnten. Die Geschäftsmodelle neuer Wettbewerber dürften in die Richtung der Plattform gehen – um Fixkosten (zum Beispiel für Infrastruktur) und Anlagevermögen zu vermeiden. Dann werden ähnlich wie bei Uber oder Airbnb nicht Autos oder Wohnungen vermittelt sondern medizinische Fachkräfte. Die Plattform selbst konzentriert sich auf die Pflege der Kundenschnittstellen, die Diagnose, die Triage (also das Orchestrieren der Behandlung) sowie das Management der Daten. An die Stelle des (staatlichen) Intermediärs Klinik könnte eine Plattform treten – die ihren Ursprung im heutigen Gesundheitssystem oder eben ganz wo anders hat. Wie ein Tech-Unternehmen versucht ein Ökosystem aufzubauen, lässt sich gegenwärtig in China studieren. Ein solcher Wandel zu einem veränderten Ökosystem (mit vermutlichem einem anderen Paradigma der Psychiatrie) dürfte kaum aus dem heutigen System heraus passieren. Nicht nur hat das staatliche Gesundheitswesen erheblichen Rückstand in Bezug auf die Digitalisierung, sondern die heutigen Vertreterinnen und Vertreter stehen grundlegenden Reformen eher skeptisch gegenüber. Ein Systemwandel zu einem privatwirtschaftlich orchestrierten Gesundheits(öko)system geht zwar mit einer erhöhten Innovationsgeschwindigkeit einher. Allerdings drohen dabei auch Errungenschaften der Vergangenheit wie Solidarität und Datenschutz verloren zu gehen.


Auch psychiatrische Kliniken entwickeln hypervernetzte Arbeitswelten

Die vorgestellten Veränderungen bewirken für Kliniken Veränderung - mindestens eine reflexive Auseinandersetzung mit den vorgestellten Themen, maximal eine komplette Transformation der Institution. Am Anfang der digital tauglichen Klinik steht das Schaffen von Voraussetzungen für die digitale Transformation. Dazu gehören neben Soft- und Hardware das Management von Daten. Denn wer diese nicht im Griff hat, muss gar nicht erst über weitergehende progressive Themen der digitalen Transformation nachdenken. Neben den Daten der Patienten geht es um betriebswirtschaftlich relevante Informationen. Kernversprechen der Datenorientierung sind neben einer schneller, besseren und präventiveren Behandlung gleichzeitig Effizienz und Intelligenz. Vision ist eine Klinik, die Daten nutzt, um Entscheidungen zu treffen und durch prädikative Analysen Szenarien entwickelt und die Zukunft plant. Im betriebswirtschaftlichen Bereich könnten Daten zum Beispiel helfen, Investitionen zu planen oder den Personaleinsatz zu optimieren. Diese Vision einer papierlosen Klinik greift auf die Behandlung über. Hier geht es um die Digitalisierung von Fragebögen in der Diagnostik oder um das in einer Therapiesitzung entstandenen Bildmaterials, zum Beispiel die Skizze einer Familienkonstellation.

    • Basis – Digitale Voraussetzungen
    • Hard & Software
    • Patientendossier
    • Digitale Verwaltung
    • Zugriffe & Sicherheit
    • Transformation I – Fokus Behandlung
    • Digitale Hilfsmittel
    • Prozesse
    • KI und Analytics
    • Datenschutz und -ethik
    • Transformation II – Fokus Arbeitswelt
    • Räume & Zonen
    • Zusammenarbeit
    • Skill Shift
    • Organisationsformen
    • Transformation III - Fokus Mindset und Kultur
    • Menschenbild
    • Führungsverständnis
    • Zukunftsbilder
    • Diversity

Tab. 3 Dimension der Transformation einer Klinik


Die eigentlichen Aufgaben der Transformation werden in der Folge in drei Ebenen unterteilt, (vgl. Tab 3). Ebene I zielt auf die Erneuerung der Behandlung, Ebene II auf das Design der Arbeitswelt und Ebene III auf die Reflexion von Mindset und Kultur. Auf der ersten Ebene ist insbesondere zu klären, welche digitalen Hilfsmittel eine Klinik künftig einsetzen will. Diese Entscheidungen hängen vom gewählten Paradigma in Bezug auf die Digitalisierung der Psychiatrie ab, der Beurteilung neuer Instrumente aber auch von der Wahl des Geschäftsmodells beziehungsweise von der Abgrenzung zu Wettbewerbern. Zur Ebene I gehören auch die Prozesse, sowohl auch von Patienten, wie auch im HR oder in Bezug auf Rechnungen und Medikamente. Ebene II konzentriert sich auf Veränderungen in der Arbeitswelt. Sie umfasst die Themen Raum, Kooperation Kompetenzmanagement und Organisation.

Es sind Aufgaben, die typischerweise der Organisationsentwicklung sowie dem HR zugeschrieben werden. Gegenwärtig werden sie auch unter der Chiffre „Zukunft der Arbeit“ diskutiert – wobei es darum geht, die erwähnten Elemente im Sinne einer stärkeren Vernetzung in und zwischen Unternehmen zu designen. Ziele der Vernetzung sind effizientere Abläufe, die bessere Nutzung der eigentlichen Potenziale von Mensch und Organisation, sowie eine stärkere hierarchie- und abteilungsübergreifende Zusammenarbeit. Die Elemente der Ebene II sollen Innovation und Agilität positiv beeinflussen.

Raum

Auf der Ebene des Raums steht das Design der Arbeitswelt der Zukunft im Vordergrund. In anderen Branchen gibt es einen klaren Trend zum Arbeiten in Zonen sowie zu unpersönlichen Arbeitsplätzen. Motive sind neben dem Wunsch, Raumkosten zu sparen, die bessere Unterstützung unterschiedlicher Formen der Wissensarbeit (Konzentriertes Arbeiten, Arbeiten in Projekten, informelle Besprechungen) auch die Förderung von Vernetzung, Serendipty und damit letztlich von Innovation. Zum Arbeitsraum der Zukunft gehört das Arbeiten unterwegs, in Co-Working Offices sowie im Home Office.

Zusammenarbeit

Will eine Klinik die Zusammenarbeit verbessern, wird sie sich einerseits die interne Kommunikation und anderseits das Wissensmanagement näher anschauen. Dabei stellt sich die Frage, welche Hardware und Software die Mitarbeitenden für das flexible, mobile Arbeiten brauchen. Zu den Elementen einer digitalen Arbeitsumgebung gehören neben Kommunikationsmitteln auch ein HR-Services-Portal, ein Management-Cockpit mit Kennzahlen sowie das Wissensmanagement. Es sind Lösungen nötig, in denen man schnell die Antwort auf eine Frage findet.

Künftig könnten ganz neue Rollen gefragt sein. Game Designer könnten virtuelle Realitäten für die Behandlung von Traumata designen, Datenethiker beurteilen, was man mit den Daten machen will, oder Peer-2-Peer Manager Communities pflegen.

Skill Shift

Zum Management der Fähigkeiten gehören die Rekrutierung, das Employer Branding sowie die Weiterbildung. Dazu muss das Management zuerst antizipieren, welche Fähigkeiten in Zukunft gefragt sein könnten und wie sich bestehende Rollen durch digitale Prozesse und Hilfsmittel verändern. Künftig könnten auch ganz neue Rollen gefragt sein. Game Designer entwickeln virtuelle Realitäten für die Behandlung von Traumata, Datenethiker beurteilen, was man mit den Daten machen will, Peer-2-Peer Manager pflegen Communities.

Organisationsformen

Schliesslich ist zu klären, wie tragfähig Hierarchien für die Organisation der Arbeit noch sind. Als Gegenargumente werden ein verändertes Menschenbild, die Notwendigkeit einer höheren Agilität sowie der Ressourcenverschleiss durch die zahlreichen Schnittstellen einer hierarchischen und funktional gegliederten Organisation aufgeführt. Als Lösungen für die Organisation werden unter anderem die Holokratie und die Projektbörse diskutiert.

Auf der Ebene III steht schliesslich der Mindset beziehungsweise die Unternehmenskultur im Vordergrund. Diese beschreibt, an was die Mitarbeitenden einer Klinik glauben, welche Zukunftsvisionen sie haben, wie sie mit Veränderungen umgehen, was für ein Menschenbild vorherrscht und welches Führungsverständnis im Vordergrund steht. Zum Führungsverständnis gehören die dominierenden Statussymbole oder auch das Lohnsystem sowie die Art und Weise, wie mit Fehlern und Feedbacks umgegangen wird. Im negativen Fall herrscht eine Angstkultur, im positiven Falle sieht man Fehler als Chance. Feedbackschlaufen führen zu einer Kultur des Vertrauens und einer lernenden Organisation. Auf der Ebene des Mindsets entscheidet sich der Grad der Partizipation der Mitarbeitenden sowie ob Vielseitigkeit als Chance oder Bedrohung wahrgenommen wird. Typisch für vor-digitale Kulturen sind Push-Steuerungsverständnisse. Die Leitung gibt Ziele vor, in der Organisation werden kaskadisch Massnahmen abgeleitet. Das gilt auch für den Umgang mit Innovation. In einem Push-Verständnis werden Neuerungen statt durch die Organisation vom Top Management vorgeschrieben. Umgekehrt steht in einem Pull-Steuerungsverständnis das Optimieren der Voraussetzungen im Vordergrund, damit Innovation überhaupt erst entstehen kann. Das bedingt mehr Selbstorganisation und zugleich mehr Selbstverantwortung für dezentrale Einheiten und deren Mitarbeitenden.

Die Kultur ist die wichtigste Ebene für einen erfolgreichen Umgang mit Veränderungen. Allerdings ist es zugleich die Ebene, die am schwierigsten zu verändern ist. Jede Veränderung produziert VerliererInnen und damit Widerstand. Zudem brauchen die hier stattfindenden Veränderungen Jahre und sind vor allem am Anfang nicht sichtbar. Es empfiehlt sich daher Interventionen auf der kulturelle Ebene stets mit Veränderungen auf der Ebene I und II zu kombinieren.


Die Psychiatrie der Zukunft braucht eine aktive Innovationsethik.

Die vorgestellten Gedanken könnten mittelfristig zu einer Disruption der Psychiatrie führen – wenn sich neue digitale Hilfsmittel als wirksam erweisen und im Zuge der Plattformwirtschaft neue Anbieter in den Markt drängen. Neue Anbieter kümmern sich weniger um ethische Gedanken als um die Eroberung neuer Märkte. Häufig geht es Disruptoren gerade darum, alte Gesetze, Prinzipien, Werte und Institutionen zu relativieren. Während die neuen Akteure rasch vorwärts gehen, hinken Behörden und Parlamente hinterher. Den Rückstand (beziehungsweise den Innovationsvorsprung) versuchen die Plattformen natürlich in Wettbewerbsvorteile gegenüber staatlichen Wettbewerbern umzusetzen. Dabei ist Geschwindigkeit im Kampf um Netzwerkeffekte ein nicht zu unterschätzender Faktor. Innovation zu unterbinden, wird langfristig nicht funktionieren – Markt und Fortschritt suchen sich ihre Wege. Ähnlich wie bei allen anderen Branchen, wo grosse Plattformen eindringen (Airbnb im Hotelgewerbe, Uber im Taxigewerbe), ist aber unklar, ob regionale Regulierung überhaupt funktioniert können beziehungsweise wie die Marktmacht grosser Unternehmen beschränkt werden kann.

Weil sie nicht aus dem Gesundheitswesen stammen, stehen die Disruptoren und ihre Angebote (noch) nicht auf dem Radar der Regulatoren. Ihre Apps, digitalen Realitäten und Peer2Peer-Börsen dürften zumindest bisher weniger streng als neue Medikamente bezüglich Wirksamkeit und Nebenwirkungen geprüft werden. Dabei besteht gesellschaftspolitisch die Schwierigkeit, durch digitale Innovationen nicht die Zwei-Klassen-Medizin zu verstärken. Denkbar ist ein Szenario mit einem von der Privatwirtschaft und deren Startups gefördertes Premium-Segment. In diesem ist man gegenüber digitalen Innovationen sehr offen gegenüber, möglicherweise wird das gesamte Gesundheitssystem neu aufgebaut. Es vertraut den Versprechen neuer Technologien ebenso wie es Daten als zentrales Hilfsmittel der Behandlung und Prävention versteht. Zu diesem High-Tech System hätten aber nur ausgewählte Kunden Zugang. Sie erkaufen sich den Zugang zu neuen Ansätzen der Behandlung in einer Art Clubsystem (den sich aber natürlich nicht alle leisten können). Umgekehrt würde sich das langsame staatliche System auf sehr traditionelle Weise um psychische Leiden kümmern. Das mag billiger aber vielleicht auch weniger wirksam sein.

Ethische Fragestellungen treten aufgrund der Ignoranz der Disruptoren vor allem für jene auf, die das alte System ins Neue überführen – also für Gesundheitspolitiker, Klinikdirektorinnen, Psychiater, Psychotherapeuten. Diese können mit kritischen Fragen steuern, in welche Richtung sich die heutigen Institutionen entwickeln. Die Metapher der Entwicklung im transparenten Glas hilft, einige dieser Fragen zu formulieren:

In einer umgekehrten Datenethik ist egoistisch, wer sich nicht an der gemeinschaftlichen Datensammlung beteiligt.

“Unter seinem Auge” heisst es in der Dystopie “Report der Magd”. In Zukunft könnten nicht mehr mal unser Gedanken und Gefühle frei sein. Denn in Zukunft sieht nicht nur Gott alles, was wir tun, fühlen und denken – sondern auch alle jene, die uns durch den digitalen Raum begleiten. Als Gemeinschaft stehen wir im Spannungsfeld, unsere Daten zu schützen und durch das Teilen unserer Daten neues Wissen zu generieren – in diesem Falle neue Formen der Prävention und Behandlung psychischer Erkrankungen. Aus einer anderen Perspektive könnte es plötzlich unethisch werden, seine Daten nicht zu teilen. In einer umgekehrten Datenethik verhält sich egoistisch, wer sich nicht an der gemeinschaftlichen Datensammlung beteiligt. Setzt man verstärkt auf eine Pull-Psychiatrie, findet ein ständiges Monitoring unseres Verhaltens und Empfindens – unserer Süchte, unseres Stresslevels und unserer Beziehungsarbeit statt. In diesem Szenario ist der Grat zwischen Fürsorge und Überwachung zweifellos schmal. Ab wann ist etwas nicht normal und in welchem Moment sollte interveniert werden? Was ist krank, was gesund, was normal? Folglich werden wir alle entscheiden müssen, wem wir vertrauen. Vertrauen kann man in die Wahrheit, den Datenschutz oder eine rasche Verbesserung seiner Leiden. Unser Vertrauen können Menschen oder Maschinen, Staaten oder Konzerne geniessen. Der Blick zurück lehrt uns, Staaten nicht bedingungslos zu vertrauen. Die jüngere Gegenwart hat uns gelehrt, auch Unternehmen zu misstrauen (Stichwort Cambridge Analytica).

Wollen wir neue feudale Strukturen vermeiden, müssen sich auch unsere Beobachter entblössen. Sollen wir ihnen vertrauen, müssen wir wissen welche Daten wann erhoben werden und wie diese für die Sorge um gesundheitliches Wohl verwendet werden. Diese Forderung nach Transparenz wird auch politisch umstritten sein. Denn die Unsichtbarkeit – beziehungsweise der Innovationsvorsprung durch die gesammelten Daten und entwickelten Algorithmen machen das Geschäftsgeheimnis der Plattformen aus. Fragen der wechselseitigen Transparenz stellen sich dabei nicht erst bei der Behandlung oder Prävention psychischer Erkrankungen, sondern bereits bei deren Erforschung. Wer weiss schon, wie gegenwärtig mit unseren Bildern, Beziehungsprotokollen, der Zusammenstellung unserer Timelines oder unserer Stimme in Bezug auf unsere Stimmungen und Gefühle experimentiert wird? Gefordert ist aber nicht nur mehr Transparenz, gefragt ist eine Diskussion der Prinzipien, nach denen wir unsere Gesundheit beurteilen und optimieren. Diese Diskussion um das Design der Algorithmen kennen wir zurzeit in erster Linie von selbstfahrenden Fahrzeugen, die in Sekunden beurteilen müssen, welches Leben sie opfern. Solche Situationen sind weitgehend fiktiv, sie treten schlicht zu selten auf.

Weniger fiktiv sind aber die Leitlinien, welche die Ausrichtung des künftigen Gesundheitssystem definieren. Die Programmierung der Algorithmen wird beeinflussen, was wir als menschliche Gemeinschaft optimieren. Wollen wir möglichst viele schöne, alte, vitale, ökonomisch erfolgreiche, angepasste, kreative, muskulöse, unterschiedliche oder glückliche Menschen? Diese Gewichtung ist gesellschaftspolitischer und normativer Natur – wird aber vermehrt in wirtschaftlichen Institutionen beantwortet. Das verweist letztlich auf die Notwendigkeit von Diversität im Management – und damit die steigende Notwendigkeit, die Verwaltungsräte im Gesundheitssystem nicht nur mit Ärzten zu belegen. Ebenso wichtig sind technisches Know-How und das Verständnis für den Geist der Disruptoren.


Quellen und Interviewverzeichnis

Das White Paper stellt keine Quellenbezüge zu Aussagen in den Interviews her. Um meine Gedanken zu prüfen, auszudifferenzieren und zu entwickeln, habe ich mit folgenden Personen gesprochen:

Interviews

Quellen


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