Zukunftsmaschinen und Maschinenzukünfte: KI als Zukunftsforscherin (Eine Delphi-Studie)
Der Traum, mit Maschinen in die Zukunft zu blicken, ist alt. Die Kybernetiker der Nachkriegszeit waren sicher, durch das fleissige Füttern von lernenden Datenmaschinen früher als alle anderen die Zukunft zu kennen. Generative KI haucht dem Traum neues Leben ein. Aber ist es tatsächlich so einfach? In einer Delphi-Studie erkunde ich, welche Zukünfte prominente KI-Orakel wie ChatGPT, Claude und Gemini voraussagen. Dabei interessiert mich nicht nur, was sie voraussagen. Genauso will ich verstehen, wie sich die Arbeitsteilung zwischen menschlichen und maschinellen Zukunftsforschenden verändert.
Text Joël Luc Cachelin
Infografiken Bonsma & Reist
Spieglein, Spieglein Warum die neuen Zukunftsmaschinen alle betreffen
Zugegeben: Der Anlass für diese Studie war ein persönlicher. Seit ein paar Monaten tauchen in meinem LinkedIn-Stream aus dem Nichts immer mehr Expertinnen und Experten für «Strategic Foresight» auf. Als Profi, der sich seit über 15 Jahren mit der Zukunft beschäftigt, lässt mich diese Häufung aufschrecken.
Warum hat sich über Nacht meine Konkurrenz vervielfacht? Warum verstehen plötzlich alle, wie man die Zukunft erforscht? Ist die Geburt der neuen Prophetinnen und Propheten eine Folge des heutigen Zeitgeistes, der in der Düsterheit umherirrt? Bietet die «Zukunft der Arbeit» zu wenig Arbeit für die Beratenden, die deshalb auf ein neues Pferd umsatteln? Oder wurzelt das Auftauchen neuer Expertinnen im Zugang zu generativer künstlicher Intelligenz (in der Folge Gen-AI)? Die Zukunftsmaschinen machen es so einfach wie nie, Zukünfte per Knopfdruck zu generieren. Diese abgekürzte Zukunftsforschung verspricht offenbar schnelles Geld.1
Ich bin verunsichert! Zukunft ist per Definition unscharf (unbeweisbar und multipel) und Zukunftsforschung dient dazu, Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten sichtbar zu machen. Das aber ist etwas, das Gen-AI offensichtlich sehr gut kann. Werden Unternehmen künftig nur noch billige KI als Zukunftsforscher anstellen? Werden sie den Zukunftsmaschinen sogar mehr zutrauen, weil sie mehr Daten verarbeiten können als Menschen und keine Mühe haben, exponentielle Entwicklungen richtig zu beurteilen? Und was kann und muss ich meinen Kundinnen und Kunden für Zukunftsarbeit bieten, um bis ins hohe Alter auf dem Markt bestehen zu können?
Allerdings geht es bei der Frage, wie Gen-AI die Zukunftsforschung beeinflusst, um wesentlich mehr als um mich, meinen Beruf und meine Zukunft. Vielmehr ist es eine Thema, das uns alle betrifft. Neben der Zukunftsforschung beeinflusst Gen-AI unsere Zukunftsbilder, die Planung der Zukunft sowie die Macht, die Konzerne, Programmierer:innen und Politiker:innen auf die Zukunft ausüben. Entsprechend versuche ich in meiner experimentellen Studie über KI als Zukunftsorakel diese vier Ebenen in ihrem Zusammenspiel mitzudenken:
Gen-AI und Zukunftsforschung Erstens interessiert mich, wie Gen-AI das Handwerk der Zukunftsforschung verändert. Folgt man der OECD bezeichnet «Strategic Foresight» einen strukturierten Ansatz zur Erforschung plausibler Zukunftsszenarien, «um Veränderungen vorherzusehen und sich besser darauf vorzubereiten».2 Durch die Auseinandersetzung mit der Zukunft entsteht Orientierung für das gegenwärtige Entscheiden und Handeln.3 Gearbeitet wird häufig mit Szenarien und Spannungsfeldern. Dabei geht es nicht darum, die Wahrheit vorherzusagen, sondern Möglichkeiten zu erarbeiten. Wie müssen Zukunftsforschende Gen-AI füttern und befragen, damit besseres Zukunftswissen entsteht? Anders als Bücher lädt sie zum Gespräch ein.
Gen-AI und Zukunftsbilder Zweitens scheint mir die Charakteristik der Zukunftsbilder relevant, die Gen-AI nun massenhaft in Umlauf bringt. Ich möchte überprüfen, welcher Art die Gedanken, Narrative und Bilder sind, welche Gen-AI über die Zukunft verbreitet. Produzieren die Zukunftsmaschinen typische «Maschinenzukünfte»? Unterscheiden sie sich von den Bildern, die Menschen über die Zukunft entwickeln? Die für alle zugänglich gemachten Fähigkeiten von Gen-AI werfen die Frage auf, was die Zukunftsmaschinen besonders gut sehen können, wen oder was sie als Treiber der Zukunft einsetzen, was sie verzerren, wo sie Stereotypen unterliegen und was ihnen verborgen bleibt. Oder anders gefragt: Warum bleiben Menschen unersetzlich, um Bilder der Zukunft zu produzieren?
Gen-AI und Zukunftsplanung Drittens scheinen mir die Zukunftsmaschinen relevant, weil kybernetische Steuerungsideen zurzeit ein Revival erfahren. Erkennt KI nicht das zukünftige Schicksal der Zivilisation und zeigt sie nicht die entscheidenden Faktoren auf, wo Machthabende investieren müssen, um in der gewünschten Zukunft zu landen? In Isaac Asimovs «Foundation»-Epos wurde die kybernetische Zukunftsschau in Form der «Psychohistorik» anschaulich durchgedacht, und Apple-TV holt sie ins 21. Jahrhundert. Die Erzählung macht einerseits klar, dass die Zukunft nur für grosse Gruppen, nicht aber für Individuen vorhergesagt werden kann. Andererseits dürfen die Menschen die Prognose nicht kennen, weil sie diese durch ihr Verhalten verfälschen könnten.
Gen-AI und Zukunftsmacht Viertens geht es beim Erzählen der Zukunft um Macht. Geschichten beeinflussen, wie ängstlich und hoffnungsvoll wir uns fühlen, wie wir die Gegenwart interpretieren und was wir (nicht) tun, um in die Zukunft zu gelangen. Zweifelsohne werden die Herren der KIs – Zuckerberg, Musk und Altman – erforschen, was man mit ihren Orakeln sehen kann. Und selbstverständlich werden sie im Geheimen prüfen, ob sich die von den Zukunftsmaschinen gemachten Prognosen bewahrheiten und wie man deren Fähigkeit, in die Zukunft zu blicken, noch verbessern kann. Diese Prognosen werden die Zukunft beeinflussen, unabhängig davon, ob sie eintreffen oder nicht. Prognosen steuern Verhalten – es wird investiert, kommentiert, dementiert, demonstriert und rebelliert.
Diese Studie ist ein Mashup, ein Mix aus Experiment, Selbstbeobachtung, Zukunftsstudie und Technologie-Test. Sie soll beispielhaft aufzeigen, was heute an KI basierter Zukunftsforschung (nicht) möglich ist und in spezifischere Themen angewendet und konkretisiert werden könnte. Die KI-gestützte Zukunftsforschung dürfte durch bessere Daten und KI-Modelle in der nächsten Zeit kontinuierlich Fortschritte erzielen. Indem man interne Daten und Texte integriert – zum Beispiel Sitzungsprotokolle, Markdaten, Kundenbefragungen, Broschüren, historische Dokumente – lässt sich das KI-Orakal an die spezifischen Voraussetzung eines Unternehmens anpassen.
Aber von vorne und zur ersten Frage: Welche Zukünfte erwarten die AI-Orakel? Und wen habe ich überhaupt befragt?
Fortsetzung folgt…
Fussnoten und Literatur Wo man in die Tiefe lesen kann
Für die Erarbeitung habe ich folgende Quellen berücksichtigt, die sich auch für eine vertiefende Lektüre empfehle.
- Anderson, Ch. (2008). The End of Theory: The Data Deluge Makes the Scientific Method Obsolete. WIRED. https://www.wired.com/2008/06/pb-theory/.
- Becket, A. (2017). Accelerationism: how a fringe philosophy predicted the future we live in. Guardian. https://www.theguardian.com/world/2017/may/11/accelerationism-how-a-fringe-philosophy-predicted-the-future-we-live-in
- Bender, E. M. et al. (2021). On the Dangers of Stochastic Parrots: Can Language Models Be Too Big? 🦜 Proceedings of the 2021 ACM Conference on Fairness, Accountability, and Transparency. FAccT ‘21. New York, NY, USA: Association for Computing Machinery. pp. 610–623. doi:10.1145/3442188.3445922.
- Crawford, K. (2024). Atlas der KI – Die materielle Wahrheit hinter den neuen Datenimperien. München: C.H. Beck.
- Gebru, T., & Torres, É. P. (2024). The TESCREAL bundle: Eugenics and the promise of utopia through artificial general intelligence. First Monday. https://firstmonday.org/ojs/index.php/fm/article/view/13636.
- Fulterer, R. & Geiser, E. (2023). Was ist künstliche Intelligenz? Wie funktioniert Deep Learning? Ein Überblick. NZZ. https://www.nzz.ch/technologie/kuenstliche-intelligenz-ki-deep-learning-einfach-erklaert-ld.1632034
- Flynn; M. F. (2000). In I. Asimov: Die Foundation Trilogie. München: Heyne.
- Haluza D & Jungwirth D. (2023). Artificial Intelligence and Ten Societal Megatrends: An Exploratory Study Using GPT-3. Systems. 2023; 11(3):120. https://doi.org/10.3390/systems11030120.
- Horx, M. (o. D. a). Die Psychohistorik. Persönlicher Blog. https://www.horx.com/86-die-psychohistorik/.
- Horx, M. (o. D. b.). Super Forecasting. Persönlicher Blog. https://www.horx.com/zukunftsforschung/superforecasting
- Neuhaus, Ch (2022). In K. Schäfer et al. (Hrsg.) Gefühlte Zukunft – Emotionen als methodische Herausforderung für die Zukunftsforschung. Berlin: Springer.
- Nosthoff, A-V. & Maschewski, F. (2018). Der Traum vom Tech-Staat. Republik. https://www.republik.ch/2018/05/15/der-traum-vom-tech-staat.
- OECD (o. D.). Strategic Foresight. https://www.oecd.org/en/about/programmes/strategic-foresight.html.
- Schleufe, M. (2016). Wahrsager, nur in seriös. Die Zeit. https://www.zeit.de/karriere/beruf/2016-01/kliodynamiker-beruf-ausbildung.
- Schlindwein, S. (2024). KI-Training in Afrika: Klicks am Fliessband. WOZ Die Wochenzeitung. https://www.woz.ch/2418/ki-training-in-afrika/klicks-am-fliessband/!G0W4YZTV7FPF
- Seefried, E. (2023). Geschichte der Zukunft. Docupedia. https://docupedia.de/zg/Seefried_zukunft_v1_de_2023
- Weber, K. (2024). Generative KI und Foresight: Diese Tools helfen bei der Entwicklung von Zukünften. Persönliche Webseite. https://konradweber.ch/2024/10/26/generative-ki-foresight/.
- Weisbrod, L. (2021). Ich sehe, wie du dich siehst. Die Zeit. https://www.zeit.de/2021/39/verhaltensprognosen-mensch-corona-modellrechnung-epidemiologen-volkswirte-voraussagbarkeit.
- van Laak, D. (2010). Planung, Planbarkeit und Planungseuphorie. In Docupedia-Zeitgeschichte. DOI: https://dx.doi.org/10.14765/zzf.dok.2.577.v1
- Zweck, A. & Werner, Th. (2024). KI in der Zukunftsforschung. In R. Häussling et al. (Hrsg.). Soziologie der Künstlichen Intelligenz. Bielefeld: transcript.