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Kurashiki-Kyoto, 2015

So wie hier in Kurashiki, muss es einst überall in Japan ausgesehen haben. Kleine dunkle Holzhäuser formen enge Gassen. In jedem ist ein neues Handwerk zu Hause. Nachts säumen Lampions den Weg. Sie spiegeln sich im Schwarz der feinen Flüsse. Von weit weg hört man Stimmen. Die Jungen trainieren, steigen die vielen Treppenstufen zum Tempel hoch- und wieder runter. Der Gang ins Schwarze ist ebenso verlockend wie bedrohlich.

Einzig violette oder weisse Vorhänge mit sektenähnlichen Logos (die ich nicht entziffern kann) oder mit feinen Holzlatten verdeckte Fenster weisen auf Gaststuben hin. Vermutlich soll man zwar erkennen, wo man essen kann – was aber im Innern der Lokals passiert, ist Privatsache. Es geht niemanden etwas an, wer wo isst, wer sich wo besäuft. Ich versuche mutig zu sein und auch in Lokalen zu essen, in denen aussen nichts auf Englisch angeschrieben ist.

Im Innern der Lokale geht es häufig familiär zu. Man zieht die Schuhe aus, die einem nach dem Bezahlen wieder zum Anziehen zurechtgelegt werden. Für die Zeit des Essens ist man Gast, wird aber wie ein Freund bedient. Fehlendes Englisch wird mit Apps kompensiert. Das japanisch Gesprochene wird subito in einer englischen Übersetzung angezeigt. Umgekehrt wäre das auch möglich – aber ich helfe mir lieber mit Bildern aus der Google-Suche und zeige auf die Lebensmittel und Speisen, die ich mag.

Kurashiki ist toll, aber zu klein für allzu viele Tage als Highspeed-Tourist. Der Shinkansen fährt mich weiter nach Kyoto. Es bleibt eine Hass-Liebe zwischen uns. Ich liebe den Ort, weil es so viel Antikes gibt. Bei jedem Besuch macht man neue Entdeckungen – einen perfekt geformten Sandhügel oder eine gigantische Pagode weit weg in den Bergen. Aber Kyoto ist schlecht organisiert. Wann und wo die Busse fahren, wird mir immer ein Rätsel bleiben, für 1.5 Millionen Einwohner gibt es gerade mal zwei Metrolinien. Alles staut sich, molochähnlich. Wie bei letzten Besuch verliere ich den Faden, brauche geschätzte zwei Stunden zurück zum Hotel und verliere in der Hektik noch den JR-Railpass.

Mein Vorliebe für die Cloud wird – trotz Schattenzeitalter – an jedem Tag der Reise deutlich. Ich möchte weder Karten lesen noch Fahrpläne studieren. Diese organisatorischen Aufgaben des Reisens würde ich gerne an einen digitalen Assistenten delegieren, der mir die nötigen Infos auf die Linsen projiziert. Die Cloud zu loben, heisst auch die Fotokamera zu beerdigen. Bei der nächsten Reise werde ich sie nicht mehr aus Mitleid mitnehmen. Grösse und Gewicht fallen zu schwer ins Gewicht, die Medienbrüche sind unangenehm. Die Fotographie verflüssigt sich genauso wie die Musik und der Text. Das Ende der Verfestigung ist der Beginn des Lifestreams.

Nachts säumen Lampions den Weg. Sie spiegeln sich im Schwarz der feinen Flüsse. Von weit weg hört man Stimmen. Die Jungen trainieren, steigen die vielen Treppenstufen zum Tempel hoch- und wieder runter. Der Gang ins Schwarze ist ebenso verlockend wie bedrohlich.

Es sind die Schattenseiten Japans, die mir im abendlichen Pendlerverkehr durch den Kopf gehen. Die Zivilisation ist wahnsinnig dicht, die Infrastruktur vielerorts veraltet. In Tokyo fällt dies weniger auf (obwohl auch dort vieles erneuerungsbedürftig ist), hier aber sind die alten Bahnhöfe und Busse offensichtlich. Auch die Regelgläubigkeit beginnt mit der Zeit zu nerven. Es droht stumpfer Gehorsam und es fehlt der Freiraum für das Andere, Quere, Unvorhergesehene. Dabei ist die Konsumorientierung enorm, was sich in einem völlig fehlenden Sensibilität für den Abfall spiegelt. Immer und überall Plastiksäcke und Kassenzettel. Plastikmänteli, um die Patisserie vor Regen zu schützen.

Man entkommt dem Labyrinth nicht. Die Zivilisation ist überall, die Häuschen erstrecken sich über die gesamte Insel, kein Quadratkilometer scheint nicht verbaut. Beim Blättern durch die abonnierten Instagramme entdecke ich Badelandschaften in Bali und wünsche mich für Momente in dieses feuchte Nichts. Aber vielleicht will ich gar nicht entkommen, weil ich Angst habe vor der Leere, der Einsamkeit, den unangenehmen Fragen, die sich durch den Stillstand ergeben könnten. Die Reise entpuppt sich wie jedes Mal als kleine Lebensschule. Ich überwinde Momente des Heimwehs, bin ich doch hier um zu entdecken.

Man entkommt dem Labyrinth nicht. Die Zivilisation ist überall, die kleinen Häuser erstrecken sich über die gesamte Insel, kein Quadratkilometer scheint nicht verbaut.

Und dann gibt es diese Momente, in denen sich alles in unendlich Positive kehrt, wo es sich tausend Mal gelohnt hat, diese Kilometer hinter mich zu bringen, das Besondere zu suchen, das Nervige durchzustehen. Am 3. Februar hat sich ganz Kyoto in eine Art Museumstag verwandelt. Es wird Fastnacht gefeiert, Priester und Maskierte vertreiben den Winter durch Feuer und Tanz. Priesteranwärter schiessen mit dem Bogen, auf den Tempeln werden Bohnen und Glückssprüche in die Menge geworfen. Ich versuche wie von einer Leserin dieser Briefe empfohlen, jeden Moment in mich einzusaugen. Nicht nur mit der Kamera zu speichern, sondern auch mit meiner Seele. Ich versuche zu entschleunigen, mich zu leeren, um mich wieder füllen zu können.


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