Die neuen Leiden entstanden durch die Digitalisierung und die Netzwerkorganisation. Weiter trägt das Streben, möglichst viele Mitarbeitende in den Change einzubeziehen – und diesen dadurch erträglicher zu machen, Schuld am zwanghaften Zusammenarbeiten. «Kollaboratitis» verbreitet sich pandemisch, samt ihren Workshops, Design Thinking Aktivitäten und Hackatons. Überall wird abgeklärt, abgestimmt, abgeholt. Für konzentriertes Arbeiten bleibt keine Zeit mehr.
Das ist schade, denn wenn zehn Mitarbeitende jeweils zehn Stunden alleine studieren, lesen, Ideen entwickeln und präsentationsreif aufbereiten, erreichen sie in der summierten Zeit deutlich mehr, als wenn sie sich in Brainstormings, World Cafés, Workshops und Sitzungsmarathons zehn Stunden lang die Beine vertreten. Wer alleine arbeitet, muss aktiv werden, sich etwas überlegen. Man ist gezwungen seine Leidenschaften zu entdecken und steigert dadurch seine Wirkung.
Der Verlust von Kreativität und Wirkung ist aber nicht der einzige Grund, warum sich von «Kollaboratitis» befallene Unternehmen in Therapie begeben sollten:
Einzelarbeit schützt vor Oberflächlichkeit.
Wer ein Problem (sei es ein Kundenbedürfnis oder die Überarbeitung einer Software) wirklich verstehen will, muss sich einarbeiten und einlesen. Etwas zu durchdringen, bedingt mehrmals rein- und rauszoomen. Nur so werden die grossen Linien ebenso deutlich wie die entscheidenden Details. Je komplexer die Welt wird, desto unverzichtbarer wird dieses Studieren. Wenn aber alles immer nur gemeinsam gedacht wird, kann nur Oberflächliches entstehen. Niemand hat genug Zeit, um zu recherchieren und zu verstehen. Unternehmen, die es ihren Wissensarbeitenden ermöglichen, in Ruhe, ohne Unterbrechungen und am Ort ihrer Wahl zu arbeiten, verhindern schlecht durchdachte Lösungen. Ohne konzentrierte Einzelarbeit entsteht kein guter Blogbeitrag, keine gelungene Präsentation, keine fundierte Marktempfehlung.
Einzelarbeit schützt vor Ineffizienz.
Sind wir mal ehrlich, wie viele Sitzungen und Workshops sind wirklich produktiv? Wie oft gehen wir mit neuen Informationen und überraschenden Ideen nach Hause? In der Regel werden viel mehr Mitarbeitende eingeladen als nötig wäre. Auf Einzelarbeit zu verzichten, kostet Geld. Teuer ist die Kollaboratitis auch, weil sich faule und wenig initiative Mitarbeitenden in Gruppen bestens verstecken können und weil Zusammenarbeit den Informationsmüll in unseren digitalen Kanälen vervielfacht. Wer glaubt, gemeinsame Brainstormings bringen gute Ideen zutage, täuscht sich. Kooperatives, synchrones Arbeiten schneidet nicht nur schlecht ab, weil gute Ideen Zeit brauchen, sondern weil im Zusammenarbeiten Gruppeneffekte auftreten. Wer am lautesten brüllt und am höchsten in der Hierarchie steht, entscheidet, welche Ideen sich durchsetzen.
Einzelarbeit schützt vor Infodemien – der bewusst oder unbewusst verbreiteten Falschinformation.
Sie macht nicht nur die Gesellschaft krank, sondern stellt für Unternehmen genauso eine heimtückische Bedrohung dar. In Form von Lügen, manipulierten Datensätzen, fehlgeleiteter KI und Deepfakes versuchen böse Angreifer die Mitarbeitenden zu verwirren. Sie versuchen, Belegschaften zu spalten. Je ungeteilter die Haltung zum Klimawandel oder zu Migration ist, desto schwieriger wird es, zusammen eine Vision zu erreichen. Ebenso gefährlich ist die durch Unwissenheit grassierende Schwarmdummheit eines Unternehmens, wenn Halbwissen zirkuliert oder zu wenig hinterfragt wird. Gegen die Hektik und die Emotionalität der Infodemie schützt einzig die konzentrierte Einzelarbeit. Sie hilft, Meinungen von Tatsachen zu unterscheiden.
Einzelarbeit schützt vor der Diskriminierung der Introvertierten.
Unsere Persönlichkeitsstruktur ist eine häufig übersehene Dimension von Vielfalt beziehungsweise Inklusion. In der von «Zusammenarbeititis» befallenen Arbeitswelt ist das Übersehen der stillen, introvertierten Mitarbeitenden eine erhebliche Verschwendung. Von «Kollaboratitis» befallene Unternehmen verpassen die Ideen der Unauffälligen und Insichgekehrten. Für diese ist es gleichermassen einfacher, Gedanken in Einzelarbeit reifen statt im Plaudern entstehen zu lassen. Sie leiden darunter, dass mit der «Kollaboratitis» eine mündliche Arbeitskultur einhergeht, die emotionaler und weniger präzise als die schriftliche ist. Bei den Rededuellen und Hahnenkämpfen, die bei kollaborativen Settings zwangsläufig auftreten, bevorzugen sie es, ihre Ideen für sich zu behalten.
Mit der Einsicht in die Wirkweise der «Kollaboratitis» ist der erste Schritt zur Genesung getan. Doch Unternehmen, die künftig auf mehr auf Einzelarbeit setzen wollen, müssen sich in Behandlung begeben. «Zusammenarbeititis» verschwindet nicht von heute auf morgen. Zu tief hat sie sich in die Strukturen, Prozesse und Kulturen der Unternehmen gefressen. Die Therapie bedingt die Arbeit an drei Themen.
Dieser Text ist zuerst auf dem Blog von HR-Today erschienen.