Das vorliegende White Paper verfolgt die These, dass die Datengesellschaft in der psychosomatischen Medizin weitreichendere Konsequenzen haben wird als in der somatischen. Erstens, weil deutlich mehr Daten über die psychische als über die somatische Gesundheit zur Verfügung stehen werden und weil zweitens diese quasi beiläufig im digitalen Alltag anfallen. Wir befinden uns permanent in einer Laborsituation, wobei unsere Psyche für zahlreiche Institutionen einsehbar ist (die für uns unsichtbar bleiben). Persönliche Daten bilden die Grundlage für Metadaten und Anwendungen der künstlichen Intelligenz (KI). In der Forschung nutzt man Metadaten, um neue Krankheiten, beziehungsweise Zusammenhänge zwischen diesen zu erkennen oder zu antizipieren, wie sich Krankheit und Gesundheit entlang von Netzwerken verbreiten (vgl. dazu die Grippe-Forschung oder die Vermehrung von Glück. KI wird in der Bild- und Gesichtserkennung zum Einsatz kommen. Sie analysiert Herzrhythmus-Kurven, berechnet, wie sich Zahnfehlstellung entwickeln und generiert die entsprechenden Zahnspangen oder diagnostiziert Hautveränderungen – gemäss einigen Studien bereits zuverlässiger als ein Mensch. Auch um Krankheiten zu antizipieren, wird auf KI gesetzt. Deep Patient ist eine Anwendung, die auf Basis von Daten voraussagt, woran jemand künftig erkranken wird. Schizophrenie wird auch voraus gesagt – allerdings verstehen weder Mensch noch Maschine die Urasche-Wirkungszusammenhänge.
Darmbakterien könnten künftig auch in der Psychiatrie eine Rolle spielen – sowohl als Indikator wie auch als Einflussgrösse für die Behandlung von Depression, Stress und Autismus
Um darüber zu spekulieren, wie Daten die Psychiatrie der Zukunft prägen, muss man sich zuerst die möglichen Quellen anschauen, die (potenziell) für Diagnose, Prävention, Behandlung und Betreuung psychologischer Leiden genutzt werden könnten. In Frage kommen sämtliche Daten, die unsere psycho-soziale Gesundheit, deren Entwicklung und die Einflüsse auf diese beschreiben. Zu den bisher in der Medizin verwendeten Datenquellen gehören Blut, Urin, Puls und Blutdruck. Bildgebende Verfahren wie Hirnscans, Ultraschall, Röntgen und MRI produzieren zusätzliches Datenmaterial. In Zukunft werden neben der DNA auch unerforschte Informationsquellen unseres Körpers eine Rolle spielen (Stichwort Multiomics. Besonders interessant scheint das Mikrobiom. Unsere Darmbakterien könnten auch in der Psychiatrie eine Rolle spielen, gilt das Mikrobiom doch sowohl als Indikator und Einflussgrösse für die Behandlung von Depression, Stress und Autismus. Durch die Digitalisierung entstehen viele neue Quellen (vgl. Tab 2.). Im Unterschied zur Vergangenheit geht es nicht mehr nur um Körperdaten, sondern wesentlich um Daten, die durch unsere digitale Aura produziert und nicht mehr in der Praxis eines Arztes erhoben werden. Aber nur wer auf unsere Daten zugreifen kann, profitiert von diesen. Umgekehrt wird man von Datenbesitzern und -verarbeitern abhängig.
Zu den Datenquellen der Zukunft gehören die sozialen Medien und die digitalen Protokolle unserer Beziehungen. Je mehr wir digital kommunizieren, je mehr Beziehungen aller Art wir digital pflegen (durch SMS, eMail, Chats), desto mehr Informationen hinterlassen wir über unser emotionales Befinden. Zusammen mit unseren Beziehungsprotokollen erstellen wir mit den Beiträgen in den sozialen Medien ein digitales Tagebuch. Sie umfassen vermehrt Bilder – in diesem Zusammenhang ist auf die gehäufte Nutzung von Instagram zu verweisen. Ungewollt hinterlassen wir Daten über unsere psychische Gesundheit, zum Beispiel durch Syntax und Wortwahl. Unsere Instagramme zeigen, wie wir die Welt wahrnehmen, was uns beschäftigt, mit wem wir wo unsere Zeit verbringen. Der Gesichtsausdruck verrät, wie wir uns fühlen. Bekannt geworden ist eine Studie, die Instagram nutzte, um depressive Verstimmungen zu erkennen. «Von den 166 Instagram-Nutzern, die an der Studie teilgenommen haben, erhielten 70 Prozent anhand ihrer geposteten Fotos die richtige Diagnose Depression”». Dazu wurden 44.000 Fotos bezüglich Farben, Metadaten und Gesichtsausdrücken analysiert. Besonders relevant sind die eingesetzten Filter. «Depressive Teilnehmer filtern häufig Farbe aus den Bildern oder verwandeln ein buntes in ein schwarz-weisses Bild. Die gesunden Teilnehmer hingegen bevorzugten aufhellende Filter wie den Valencia-Filter. Auch stellten sie mehr und häufiger Bilder auf die Plattform». In eine ähnliche Richtung geht die Vermutung, dass gehörte Musik etwas über unseren Gefühlszustand verrät.
Ebenso von Interesse sind unsere Netzwerke, spiegeln sie doch zumindest bei digital aktiven Menschen deren soziale Gesundheit. Wer intensiv und mit unterschiedlichen Menschen kommuniziert, verfügt über eine intakte Gesundheit. Ähnliche Informationen lassen sich aus unseren Geodaten generieren. Sie erzählen etwas über unseren Aktivitätsradius und unsere Ruhephasen. Interessant sind in beiden Fällen Verhaltensveränderungen – zum Beispiel eine stetige Reduktion des Bewegungsradius. Datenbesitzer werden vermehrt Dinge erkennen, bevor wir uns selbst einer Veränderung bewusst werden. Diese Voraussicht ist deshalb bedeutsam, weil man von fünf bis sechs Jahren ausgeht, die zwischen den ersten Symptomen einer psychischen Erkrankung und deren Behandlung liegen. Dieser Zeitverlust kann sich negativ auf die Heilung auswirken und führt zu vergleichsweise hohen Kosten im Gesundheitswesen (vgl. Schulz, 2018, S. 112). Zu den neuen Digitaldaten gehört unsere Stimme. Algorithmen sollen in dieser zum Beispiel Depressionen erkennen können. Vermehrt wird das Internet der Dinge unsere Gesundheit beiläufig erfassen – durch intelligente Lautsprecher und Kameras. Nicht nur unsere grossen Bewegungen, sondern auch unserer Wischen auf dem Smartphone oder unser Fahrstil sagen etwas über unsere psychische Gesundheit aus. Intelligente Kameras könnten gar verfolgen, wie sich die Bewegungsmuster unserer Augen verändern. An der Universität Edinburgh wird erforscht, welche Informationen durch Eyetracking erhoben werden können.
Durch das Internet der Dinge werden Diagnosen und Behandlungen ohne menschliche medizinische Intermediäre möglich. Die Maschine beobachtet, analysiert, warnt und interveniert. In diesen Szenarien einer datenorientierten Medizin tauchen neuartige Designfragen für das Gesundheitssystem der Zukunft auf, viele davon sind normativ. Es ist zunächst unklar, für welche Leiden sich die künftige Psychiatrie zuständig fühlt und wie sie zwischen Krankheit und Unbehagen unterscheiden soll (vgl. Kapitel 1). In einer Big-Data-Medizin steht zudem zur Diskussion, ob vordefinierte Krankheitsbilder überhaupt noch Sinn machen – oder man vielmehr von einem Netzwerk von Symptomen ausgehen sollte. Das würde eine Personalisierung der Behandlung beziehungsweise eine Explosion der Anzahl Krankheitsbilder nach sich ziehen. Es gäbe dann so viele Krankheiten wie Menschen, der Moment der Diagnose verflüssigte sich. Aber welche Daten werden die Algorithmen verrechnen? Wer sicher die Qualität der Daten? Und wie transparent sind die Datensammler? Im Unterschied zu früher die Algorithmen permanent, wie es uns geht. Sie prüfen, was für Fotos wir posten, welche Musik wir streamen, ob wir im Wohnzimmer streiten, intelligente Toiletten analysieren täglich unser Mikrobiom. Einen Grossteil dieser Daten produzieren wir freiwillig - mitunter, um unser emotionales Befinden zu erfassen (vgl. dazu Mau, 2017). Ein Selfie dient auch der Selbstbeobachtung und -findung. Bereits das Sichtbarmachen kann eine Verbesserung der Gesundheit bewirken, zum Beispiel mehr physische Aktivität durch das Zählen der Schritte.
Analog zur Dystopie Minority Report würden Krankheiten behandelt, bevor sie überhaupt ausbrechen.
Aufgrund dieser alltäglichen Daten ist die Verbreitung von «Pull-Ansätzen» in der Psychiatrie zu erwarten. Bei diesen machen Alarmsysteme frühzeitig auf negative Entwicklungen aufmerksam. Dabei könnten subkutane Verteiler von Medikamenten, Anwendungen der Bioelektronik oder Chatbots zum Einsatz kommen. Bei grösseren Störungen informieren die Alarmsysteme Peers, Angehörige oder direkt medizinisches Personal. Prävention und Überwachung liegen offenkundig nahe beieinander. Unabhängig von der Wünschbarkeit dieser Alarmsysteme fällt schnell auf, dass sich die nötigen Datenquellen weitgehend dem Zugriff heutiger medizinischer Institutionen entziehen. Im Gleichschritt mit neuen Datenquellen und Analysemethoden dürften gegenwärtig also auch die künftig relevanten Institutionen der Psychiatrie entstehen. Bereits heute ist die Datennutzung umstritten. Es wird argumentiert, dass man Ursache-Wirkungen nicht durch Daten abbilden kann (oder reduzieren sollte). Der Mensch sei mehr als ein Datensatz. Neue Datenquellen werden die Skepsis verstärken. Kritisiert werden dürfte vor allem der Predictive Ansatz. Analog zur Dystopie Minority Report würden Krankheiten – auch vor dem Hintergrund der hohen Kosten bei zu später Intervention – behandelt, bevor sie ausbrechen. Übergeordnet ist zu reflektieren, inwiefern das Leid zum menschlichen Entwicklungsprozess dazugehört. Möglicherweise sind gewisse Schritte in der Entfaltung einer Persönlichkeit nur möglich, wenn man auf Widerstand trifft. Das bedingt unsicher, traurig, verzweifelt zu sein. Diese menschlichen Eigenschaften werden interessanterweise regelmässig angeführt, um die Unterschiede zwischen Mensch und Maschine zu beschreiben. Es sind diese Unterschiede, welche die Psychiatrie der Zukunft nicht vernachlässigen sollte. Sonst degeneriert der Mensch zur Maschine, und die Behandlung durch den Psychiater zum Update.
Eine Disruption der heutigen Verhältnisse ist schliesslich deshalb zu erwarten, weil die Pharma-Industrie durch Biotech-Firmen und neue Möglichkeiten von Einmal-Behandlungen (statt lebenslanger Verordnung von Medikamenten) unter Druck gerät (vgl. Schulz, 2018). Sehr wahrscheinlich wird die Pharmaindustrie deshalb verstärkt mit Daten statt Chemie arbeiten wollen. All diese Entwicklungen bringen die Frage mit sich, wer befugt ist, medizinische Diagnosen zu stellen. Im vor-digitalen Gesundheitssystem gab es dafür klar definierte Instanzen. Um eine im System (bestehend aus Ärzten, Spitälern, Apotheken und Krankenkassen) akzeptierte Diagnose zu stellen, brauchte man eine staatlich anerkannte Ausbildung. Nun aber verteilen sich unsere Daten wie Feinstaub. Damit vervielfachen sich die Instanzen, die mit ihnen unsere Gesundheit verbessern wollen. Aus Datenschutz-Sicht wird zu klären sein, welche Automatismen in einem künftigen Gesundheitssystem zulässig sind. Stehen wir vor einem Szenario, in dem ein digitaler Psychiater ständig zuhört und falls nötig eingreift? Alexa, der intelligente Lautsprecher von Amazon, sorgt regelmässig für Schlagzeilen – zuletzt weil sie ein intimes Gespräch aufgezeichnet und unbefugt weitergeleitet hat. Das ruft nach Regulierung - wobei sich ähnliche Probleme wie bei Uber und Airbnb zeigen werden. Nicht nur handelt es sich um globale Phänomene, die national kaum zu regeln sind. Sondern der Regulator hat auch einen Geschwindigkeitsnachteil. Die Daten sind längst verstreut und die Disruptoren werden schneller als staatliche Akteure neue Instrumente für die Diagnose, Prävention und Behandlung unserer psychischen Gesundheit entwickeln.